Katja Mielke und Conrad Schetter, Wissenschaftler am BICC, fordern in ihrem Kommentar zur Rückkehr der Taliban nach Kundus eine kritische Aufarbeitung des Bundeswehr-Einsatzes dort: „Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde.“
Kundus stand ein Jahrzehnt lang wie kein anderer Ort für den deutschen Sonderweg einer Interventionspolitik, in der Wiederaufbau mit einem Bundeswehreinsatz gepaart wurde. Hier wurde der sog. Vernetzte Ansatz erprobt, hier versuchten die Deutschen, es besser zu machen als ihre angelsächsischen Kollegen, was die Einbindung der Afghanen und den Aufbau von Staatlichkeit anging. Kundus sollte das Musterländle am Hindukusch werden. Nun ist es das Symbol, das – wenige Monate nach dem massiven Truppenabzug aus Afghanistan – für die Zäsur im Wiederaufbau, für das Wiederaufflackern des Bürgerkrieges und für die Rückkehr der Taliban steht. Schonungslos führt die Weise, in der die Taliban Kundus in wenigen Stunden überrannten und einnahmen, vor Augen, wie oberflächlich zehn Jahre deutscher Präsenz und Entwicklungsanstrengungen den Nordosten des Landes nur verändert hatten. Nun dürfte auch der letzte deutsche Politiker und Beamte verstanden haben, dass die Schönfärberei des Einsatzes in Afghanistan nichts mehr bringt.
Allenthalben wird nun gefragt, was denn die internationale Gemeinschaft als nächstes tun müsste, um die Konsolidierung und eine erneute großflächige Herrschaft der Taliban zu verhindern; wieder einmal scheint eine neue Runde des blinden Aktionismus auszubrechen, die kaschieren soll, was in der Vergangenheit alles falsch gelaufen ist. Daher bedarf es eher einer kritischen Aufarbeitung des Kundus-Einsatzes, bevor man erneuten aktionistischen Impulsen nachgibt. Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde. Heute gibt es viele bittere Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Hier einige Beispiele:
Die Bundeswehr war in Kundus zu keinem Zeitpunkt in der Lage, ihren Auftrag, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau zu schaffen, umzusetzen. Dazu mangelte es ihr an Kapazitäten und an Fähigkeiten. So hoffte man, dass die technisch-militärische Überlegenheit der Bundeswehr ausreichen würde, um Gewaltakteure abzuschrecken. Eigene Soldaten in Gefahr zu bringen, um ein sicheres Umfeld zu schaffen, war unausgesprochenes Tabu. Diese Strategie ging dem Anschein nach viele Jahre lang gut; mit sehr viel Glück hielten sich die Verluste in Kampfeinsätzen gering. Eher schleichend verschlechterte sich die Sicherheitslage; zunächst wurde der Distrikt Chardarah, direkt vor den Toren des Bundeswehrlagers, zu einer Problemregion, dann kamen Distrikte wie Archi, Khanabad und Imam Sahib dazu. Mit der Zeit traten die schon immer vorhandenen Rivalitäten und Netzwerke der Kriegsfürsten wieder mehr und mehr zu Tage. Die Bundeswehr war nur noch oberflächlich in der Provinz präsent: Kaum noch fuhr sie Patrouillen; sie igelte sich immer mehr in ihrem Lager ein. Entgegen einer konsequenten Entwaffnung lokaler Gewaltakteure fand in Kundus das genaue Gegenteil statt. So wurden – v. a. mit US-amerikanischem Geld – lokale Bürgerwehren als Privatmilizen finanziert, bewaffnet und aufgebaut. Beim Abzug der Bundeswehr war nahezu die gesamte Provinz unter rivalisierenden, bis an die Zähne bewaffneten Kommandeuren aufgeteilt. Die Sicherheit in Kundus – wohlgemerkt die der Bevölkerung, nicht ihre eigene – hatte die Bundeswehr bereits vor Jahren aufgegeben.
Aber gegen wen will man eigentlich kämpfen? Früh, zu früh operierten die deutschen Analysten mit einem zu simplen Feindbild. Zu schnell wurde alle unzufriedenen oder aufmüpfigen Paschtunen als Taliban kategorisiert; blind ließ man sich in die lokale Politik hineinziehen – ohne zu merken, dass die Bundeswehr, aber auch Organisationen der Entwicklungshilfe in ihrer alltäglichen Praxis politisch Partei ergriffen. Beispielsweise wurden sowohl in Kundus Stadt als auch in Taloqan, der Hauptstadt der Nachbarprovinz Takhar, Grundstücke und Gebäude angemietet, ohne Bedenken, wessen Taschen damit gefüllt würden und welchen Eindruck diese Art der Parteinahme in der dortigen Bevölkerung hervorrufen würde. Die blauäugige Rekrutierung von Personal – ob Logistiker, Ingenieure, Dolmetscher – verfestigte den Einfluss und das Machtgewicht bestimmter Familien und Netzwerke. Dass diese Personalpolitik die lokalen Zielgruppen der Entwicklungsmaßnahmen und Projekte sowie den Informationsfluss zwischen Interventen und der breiten Bevölkerung maßgeblich beeinflusste, überrascht nicht. Die Deutungshoheit über die lokalen politischen Verhältnisse hat man entweder nie erlangt oder Wissen zu leichtfertig anderen Erwägungen – wie Mittelabflussdruck, Karriereplanungen und Kurzzeitinteressen der ministerialen Politik in Berlin und Bonn – geopfert. Auch der von Oberst Klein befehligte, verhängnisvolle Beschuss von einem Tankzug, bei dem etwa 90 Zivilisten ums Leben kamen, verdeutlichte, wie weit man von den Realitäten vor den Toren des Lagers entfernt war.
Auch wurden die vermeintlichen Bedürfnisse der Afghaninnen und Afghanen zum einen niemals richtig erfasst und zum anderen wurde die Frage, ob die Partnerwahl vor Ort immer die richtige war, niemals gestellt. Die Bevölkerung selbst wurde viel zu selten gefragt, in was für einer Gesellschaft sie eigentlich leben will. Die Definition der Bedürfnisse und Strategien zu deren Realisierung wurde in kolonialer Manier durch die Interventen vorgenommen. In den Gemeinden im Nordosten mit dieser Art Vorgehen auf der Alltagsebene Vertrauen aufzubauen und die Zuversicht in den Staatsaufbauprozess zu stärken, war daher illusorisch. In einer Reihe von Dörfern wussten sich Männer aller Altersklassen in den letzten Jahren aufgrund von Denunzierungen ihrer Rivalen und der Angst, lokalen Ordnungskräften ans Messer geliefert zu werden, nicht anders zu helfen, als „in die Berge“ zu gehen und sich vor dem Zugriff des „Rechtsstaates“ in Sicherheit (!) zu bringen. Sie galten dann als Taliban oder al-Qaeda-Anhänger. Die Taliban in Kundus waren daher zum großen Teil ein Monster, das sich die Intervention selbst geschaffen hat.
Die afghanischen Partner und insbesondere lokale Eliten tragen eine klare Mitverantwortung für die Geschehnisse: Auch für sie bildeten Kurzzeitinteressen die Priorität; die verfügbaren Gelder – letztendlich Gelder deutscher Steuerzahler – waren immens und weckten Begehrlichkeiten. Letztlich formten diese Anreize die Grundlage dafür, dass die Akteure der staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit zunehmend selbst Konfliktparteien wurden. Auch wenn dies ungewollt geschah, der Mangel an Selbstkritik, organisatorische Selbsterhaltungslogiken und die bewusste, bis heute anhaltende Täuschung der deutschen Öffentlichkeit sind konkrete Punkte, die die gegenwärtige allseitige Bestürzung über die aktuellen Ereignisse in Kundus heuchlerisch erscheinen lassen.
Vor diesem Hintergrund wäre es fatal über die Ereignisse in Kundus nun einfach hinwegzugehen oder mal wieder nur nach dem Militär zu rufen. Viel mehr zeigt gerade der Fall Kundus, wie schwierig, langwierig und steinig der Weg des Wiederaufbaus in einem zerrütten Bürgerkriegsland ist. Eine externe Analyse dessen, was eigentlich in gut zehn Jahren deutschem Engagement in Kundus gelaufen ist, ist daher unbedingt von Nöten, um aus den gemachten Fehlern für zukünftiges Handeln zu lernen. Dabei geht es dann auch darum, schonungslos Probleme, Ignoranz, Versagen und Fehleinschätzungen aufzuarbeiten. Dies hat die deutsche Politik bislang bewusst nicht gewollt. Kundus musste unbedingt ein Erfolg sein. Wer sich jedoch nach den Ereignissen der letzten Tage dieser kritischen Auseinandersetzung immer noch verschließt, muss entweder Zyniker oder verblendet sein.
Katja Mielke und Conrad Schetter arbeiten am BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn). Zwischen 2003 und 2013 bereisten sie immer wieder Kundus und führten dort Feldforschung zu lokaler Politikgestaltung durch.
Kommentar zum Download: BICC Kommentar Kundus (PDF)