Die Vorfälle in Köln haben ein hohes Maß an Spekulationen über die Ursachen sexistischen Handelns junger nordafrikanischer Männer hervorgerufen. Dabei haben Herkunft und Religion wenig Einfluss auf die Entwicklung aggressiven Verhaltens. Eine viel größere Rolle spielen massive Gewalterfahrungen in der Kindheit und die konkrete Handlungssituation.
Die Vorfälle in Köln haben ein hohes Maß an Spekulationen und Theoriebildungen über die Ursachen und Motive gewalttätigen und sexistischen Handelns junger nordafrikanischer Menschen zutage gefördert. Man könnte fast zynisch von einer neuen Wissenschaft des Phänomens kollektiver sexueller Belästigung („taharrush gamea“) sprechen. Wie hängen Gewalt, Jugend, kulturelle Herkunft und Religion zusammen? Diese Verschränkung ist lohnend, gleichwohl gegenwärtig die Versuchung sehr groß ist, bei einer erkennbar religiösen Zuordnung der Täter sofort auch die Antwort zu haben: „Das hängt mit dem Islam zusammen. Das ist in deren Kultur so verankert.“
Wären die daraus abgeleiteten und geforderten politischen Konsequenzen nicht existenziell bedeutsam für das soziale Miteinander, könnten wir diese Spekulationen alle mit einem liberalen Gestus, im Sinne Paul Feyerabends, „anything goes“, achselzuckend hinnehmen.
Die Erkenntnisse der empirischen Gewaltforschung haben hier, jenseits von einzelfallorientierten Spekulationen und Mutmaßungen, eigentlich eine Menge Licht ins Dunkel gebracht:
Zentrale Aspekte gewaltförmigen Handelns sind, so trivial das auch klingen mag, das Geschlecht, die Lebensphase sowie die konkrete Handlungssituation. Die determinierende Kraft von Religion, Herkunft und Kultur sind eher nachrangig.
Doch Punkt für Punkt: Die Neigung zu Gewalt bei Jungen ist etwa viermal so stark wie bei Mädchen. Auch was die Einhaltung von Gesetzen betrifft, haben junge Frauen durchwegs höhere Werte junge Männer.
Richtet man den Blick auf den lebensgeschichtlichen Verlauf von Gewalt, so verdeutlichen empirische Studien, dass die Gewaltrate ab dem 13. Altersjahr stark ansteigt, um dann im Erwachsenenalter wieder abzusinken.
Zu den Ursachen: Einig ist sich die Forschung, dass kriminelle Karrieren gehäuft mit Vernachlässigung, Verwahrlosung und frühen Gewalterfahrungen beginnen, die in einigen Fällen in einer ausgeprägten Delinquenzentwicklung enden. Junge Menschen, die massiver Gewalt ausgesetzt waren, sei es im Elternhaus, sei es im sozialen Alltag, wie etwa Kriegssituationen, reagieren eher feindselig und aggressiv, unabhängig davon, ob es sich um einen deutschen, arabischen, christlichen oder muslimischen Jugendlichen handelt. Gewalterfahrungen führen zu Sozialisationsdefiziten: Jungen Männern fehlen dann oft Kompetenzen, wie sie in gewaltanfälligen Situationen deeskalativ handeln können, z.B. beschwichtigen, Kompromisse eingehen, Ansprüche anderer anerkennen usw.
Wenn weitere belastende Entwicklungen hinzukommen, wie etwa Schulversagen, „Gangmitgliedschaft“, Perspektivlosigkeit oder Ausgrenzungserfahrungen, dann verdichten sich einzelne Risikofaktoren, so dass ein latentes Gewaltpotential in eine manifeste Gewaltausübung umschlagen kann.
Situationen wie in Köln, bei der rund 1000 Personen beteiligt gewesen seien, führen sozialpsychologisch vielfach zu Verantwortungsdiffusion und haben einen enthemmenden Charakter, ähnlich den Hooligans beim Fußball. Das Gefühl, für das eigene Handeln nicht belangt werden zu können, vermischt sich mit dem Gefühl der Stärke in der Gruppe und wirkt als Katalysator.
Welchen Einfluss haben Religion und kulturelle Herkunft auf das Handeln? Zunächst ist festzuhalten, dass die Entwicklung religiöser Identität deutlich später erfolgt als das „Peak“, also die Spitze der Gewalthandlungen in der Biografie.
Ein religiöses Selbstverständnis setzt häufig erst im beginnenden Erwachsenenalter an, so dass die Verschränkung von Religion und Gewalt bzw. der religiösen Motivierung der Gewalt entwicklungspsychologisch bedenklich ist und vielfach nur eine Fremdzuschreibung darstellt.
In einigen Studien wird eine größere Gewaltakzeptanz berichtet, die mit Befürwortung dominanter Männlichkeitsbildern bei jungen Zuwanderern einhergeht. Es wird ein mittelstarker Zusammenhang zwischen dieser Akzeptanz und eigener Gewalttätigkeit gesehen. Dennoch ist festzuhalten: Die Billigung von Gewalt führt keineswegs zwingend zu tatsächlichem Gewalthandeln. Dieser Befund wird selten bei der Deutung von Jugendgewalt mit und ohne Migrationshintergrund berücksichtigt.
Wir erliegen einem gewaltigen Missverständnis, wenn wir annehmen, bei Religiösen und vor allem Muslimen würden alle Handlungen durch religiöse Normen bestimmt, die vollständig verinnerlicht und bei jeder Handlungsausführung auch präsent seien. Dies ist nicht der Fall. Handeln wird im selben Maße auch von situativen Anreizen und Merkmalen determiniert.
Wie sehr prägt uns die Kultur tatsächlich in unserem Handeln und Denken? Wie sehr bestimmt sie, was und wie wir denken? Genau dieser Frage sind Oyserman und Lee von der University of Michigan vor einigen Jahren in einer Metaanalyse – einer Studie, die die Befunde einer Vielzahl von Studien zusammenfasst – nachgegangen.
Ergebnis ist: Der kulturelle Hintergrund hat auf die Denkstile nur einen mittelmäßigen, und auf das Selbstkonzept sowie auf die Werte der Individuen sogar nur einen marginalen Effekt. Wir unterliegen also einem kognitiven Selbstbetrug, wenn wir vorschnell das Handeln Einzelner auf deren kulturelle Herkunft zurückführen.
Deshalb kann es bei den Tätern der Silvesternacht weder einen Kulturrabatt geben, noch können die Taten damit erklärt werden, dass diese Übergriffe in den Herkunftsländern üblich seien. Denn das sind sie keineswegs: Sexuelle Übergriffe werden in den muslimischen Ländern deutlich stärker und rigider bestraft. Der reflexartig hergestellte Zusammenhang mit dem kulturellen oder religiösen Hintergrund der Täter versperrt uns häufiger die Einsichten als dass sie Erkenntnisse bringt. Das Bemühen um ein Verstehen-Wollen von Gewalthandlungen bedeutet keineswegs Einverständnis mit diesen Taten, sie ist aber Voraussetzung, um wirksame Prävention und Intervention einzuleiten.
Verfasser:
Veröffentlicht am 18.01.2016 im Tagesspiegel Causa.