Im Jahr 2015 waren laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) über 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – so viele wie seit 1945 nicht mehr. Obwohl man in Deutschland und Europa oft davon ausgeht, dass für einen Großteil dieser Menschen das eigentliche Ziel Europa heißt, halten sich über 80 % der Fliehenden in Entwicklungs- und Schwellenländern auf, die meisten innerhalb ihrer Landesgrenzen. Vor allem Syrien und seine Nachbarländer, aber auch Kolumbien, Nigeria und der Sudan sind davon betroffen. Entgegen einer landläufigen Vermutung sind nicht Flüchtlingslager die Hauptaufnahmestätten, sondern Städte. Deshalb muss bei der Unterstützung von Flüchtlingen und der sie aufnehmenden Kommunen diese urbane Dimension der Flüchtlingskrise stärker berücksichtigt werden.

Flüchtlinge und Vertriebene zieht es vor allem in Städte

Laut Weltmigrationsreport 2015 der Internationalen Organisation für Migration (IOM) halten sich weltweit zwei Drittel aller Fliehenden in urbanen Gebieten auf. Der Anteil der Flüchtlinge in Flüchtlingslagern ist hingegen in den meisten Ländern vergleichsweise gering. So wohnen etwa in Jordanien nur 20 % der Flüchtlinge in Camps. Im Libanon liegt dieser Anteil sogar nur bei 10 %. In vielen Fällen bilden Städte auch Durchgangsstationen auf dem Weg in regionale oder internationale Zielorte. Ob Ziel- oder Transitorte, Städte werden in der Hoffnung auf Sicherheit, Grundversorgung und Gelegenheiten zum Einkommenserwerb aufgesucht und sind daher strategische Anlaufstationen. Innerhalb der Städte wohnt der IOM zufolge der größte Teil der Flüchtlinge in bestehenden Wohngebieten – entweder zur Miete oder umsonst bei Verwandten und Bekannten. Oftmals kommen die Flüchtlinge in informellen städtischen Siedlungen unter, in Jordanien beispielsweise etwa 200.000 Flüchtlinge.

Zwar ist im Gegensatz zu Flüchtlingscamps in gewachsenen Stadtstrukturen das Problem der räumlichen Ausgrenzung nicht ganz so stark ausgeprägt. Trotzdem stehen Städte in Entwicklungs- und Schwellenländern, die eine große Anzahl von Flüchtlingen aufnehmen, vor großen Herausforderungen. Dazu zählen die Basisversorgung der Flüchtlinge in den Bereichen Bildung, Ausbildung, Gesundheit, Wohnen, technische Infrastruktur, der Zugang zu Beschäftigung, der aus rechtlichen oder sozialen Gründen oftmals erschwert ist, sowie die Sicherstellung des sozialen Friedens zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Verschärft werden diese Probleme durch die meist sehr begrenzten technischen und finanziellen Kapazitäten von Lokalregierungen und Verwaltungen und ihrer mangelnden Einbindung in migrationspolitische Entscheidungen. Zudem bestehen für Flüchtlinge in der Regel kaum Möglichkeiten zu politischer Partizipation.

Die urbane Dimension verstärkt ins (entwicklungspolitische) Visier nehmen

Organisationen der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit unterstützen heute bereits Projekte und Initiativen in Städten, Gemeinden und zu „Quasi-Städten“ gewordenen Flüchtlingslagern in den Hauptaufnahme- und Durchgangsländern. Dazu gehören der (Wieder-)Aufbau von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern, die Verbesserung der Strom- und Wasserversorgung, die Förderung von Schul- und Ausbildungssystemen für Kinder und Jugendliche mit flankierender psychosozialer Betreuung oder die Verbesserung des Zugangs zu Finanzdienstleistungen. Um langfristig den Nutzen sowohl für die Flüchtlinge als auch für die ansässige Bevölkerung zu erhöhen, müssen wir die Herausforderungen und Folgen für die Städte stärker in den Blick nehmen:

Lokale Ebene: Lokale Regierungen, Stadtregierungen und Verwaltungen sollten von Anfang an in Maßnahmen zur Unterstützung von Flüchtlingen und Vertriebenen eingebunden werden. Hierfür ist es dringend notwendig, dass diese Stellen auch mit den notwendigen Finanzmitteln von den nationalen Regierungen ausgestattet werden. Des Weiteren ist der Ausbau technischen Know-hows erforderlich, z.B. für die lokale Infrastrukturplanung. Schließlich sollten neben staatlichen Partnern auch zivilgesellschaftliche Organisationen oder Netzwerke, u.a. zwischen Flüchtlingen und der ansässigen Bevölkerung, in Partnerschaften eingebunden werden.

Soziale Kohäsion: Zwischen den nach Flucht und Vertreibung aufgenommenen und den alteingesessenen Bevölkerungsgruppen gibt es häufig Konfliktpotential. Deshalb sollten Investitionen, etwa in die lokale Infrastruktur, von Anfang an auch der ansässigen Bevölkerung zugutekommen. Ebenso sind Konfliktmanagement und Maßnahmen zur urbanen Gewaltprävention beispielsweise bei Jugendlichen in vielen Fällen notwendig.

Vom Verwalten zum Gestalten: Flüchtlingslager entstehen in der Absicht, kurzfristige Übergangslösungen für die betroffenen Gruppen zu schaffen. Jedoch werden sie in vielen Fällen zu Dauereinrichtungen – gewissermaßen zu Städten ohne wirkliche städtische Strukturen. Daher sollten Flüchtlingslager mit dem Ziel gebaut oder umgestaltet werden, ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Flüchtlinge brauchen Beschäftigungsperspektiven und Teilhabe an der aktiven Gestaltung des Lagers.

Eine stärkere Beachtung dieser urbanen Herausforderungen würde einen entscheidenden Beitrag leisten zu mehr Sicherheit, Demokratie und verbesserten Lebensbedingungen in den von der weltweiten Flüchtlingskrise betroffenen Ländern.

Über die Autoren Eva Dick und Benjamin Schraven.

DIE Aktuelle Kolumne „Die globale Dimension der Flüchtlingskrise: Die zentrale Rolle der Städte“ (PDF)