In seiner jüngsten Rede zur Lage der Europäischen Union skizzierte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker seine Vision von der künftigen Migrationspolitik der EU. Die Rede stellte eine Reihe von Vorschlägen zur Stärkung der EU-Kompetenzen im Migrationsbereich vor. Die Vorschläge zielen darauf ab, die nationalen Spaltungen im Bereich der Migration zu überwinden, die von nationalistischen Politikern wie Orbán und Salvini gefördert werden. Doch scheinen die Vorschläge in erster Linie von politischer Schadensbegrenzung inspiriert zu sein und stellen keine längerfristige Antwort im Interesse der Entwicklung der EU und ihrer Beziehungen zu Afrika dar. Darüber hinaus werden die Bedürfnisse der europäischen und afrikanischen Bürger nicht angemessen berücksichtigt.
Junckers Vorschläge versuchen, die Lücken zu schließen, die durch festgefahrene Verhandlungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten entstanden sind, und umfassen die Einrichtung einer EU Asylagentur sowie einer EU-Grenz- und Küstenwache. Erstere soll die Staaten bei der Bearbeitung von Asylanträgen unterstützen. Letztere soll Exekutivbefugnisse haben, um Grenzkontroll- und Rückführungsaufgaben in EU- und Nicht-EU-Ländern durchzuführen. Ihre Einrichtung soll die Durchsetzung strengerer Rückkehrvorschriften ermöglichen. Als Gegenstück zu dieser strengeren Linie schlägt die Kommission vor, legale Wege für Fachkräftemigration und humanitäre Wiederansiedlung zu schaffen. Es wird erwartet, dass damit Anreize für Drittländer geschaffen werden, bei der Grenzkontrolle und Rückführung zu kooperieren.
Seit dem kurzzeitigen Anstieg der Migrantenzahlen 2015 und trotz eines Rückgangs der Neuankünfte haben die europäischen Staaten Schwierigkeiten, gemeinsame und dauerhafte Lösungen zu finden. Derzeit sind kaum politische Fortschritte zu verzeichnen, wobei Juncker beklagt, dass „wir nicht bei der Ankunft jedes neuen Schiffes weiter über Ad-hoc-Lösungen für die Menschen an Bord streiten“ können. Die Herausforderungen sind nicht neu. Versuche, eine gemeinsame Migrationspolitik zu definieren, reichen mindestens zwei Jahrzehnte zurück. Die Tatsache, dass diese Versuche erfolglos waren, hat sicherlich zu den enormen politischen Auswirkungen der Migration beigetragen. Bürger haben sich dem Nationalismus zugewandt und ihr wachsendes Misstrauen gegenüber der EU zum Ausdruck gebracht. Die Wahrnehmung, dass die EU nicht bereit oder nicht in der Lage ist, sich der Herausforderung zu stellen, hat sich vor allem in Ländern verbreitet, in denen die Bürger weiterhin mit den Langzeitfolgen der Wirtschaftskrise kämpfen.
Junckers Fokus auf Grenzkontrolle und Rückkehr spiegelt die Tatsache wider, dass nationale Spaltungen dazu geführt haben, Migration als Bedrohung der Grenzen und nicht als Chance wahrzunehmen. Junckers Vorschläge verstärken die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen, die bleiben dürfen, und anderen Migranten, für die zunehmende Einschränkungen gelten. Dieser Ansatz verkennt, dass Migration sowohl für die wirtschaftliche Stabilität in Europa als auch für Resilienz und Entwicklung in Afrika wesentlich ist. In den Vorschlägen fehlen Maßnahmen, die den Beitrag der Migranten zur transnationalen Entwicklung unterstützen, etwa die Senkung der Kosten für Rücküberweisungen. Zudem bieten die Vorschläge keine Lösungen für die vielen gering qualifizierten Migranten, die illegal, etwa in der Landwirtschaft, arbeiten und deren Beschäftigung indirekte negative Folgen für gering qualifizierte europäische Arbeitnehmer hat.
Die Vorschläge von Juncker können auch eine wirksame Zusammenarbeit zwischen der EU und Afrika behindern. Um eine afrikanische Zusammenarbeit bei der Grenzkontrolle und Rückführung zu erreichen, wird die EU die afrikanischen Staaten mit Hilfe anderer externer Politiken weiter unter Druck setzen müssen. Dies wird vor allem für die Entwicklungshilfe gelten. So wird die gegenwärtige Auseinandersetzung Europas mit dem Nationalismus langfristige Auswirkungen auf seine Beziehungen zu Afrika haben. Dies hat bisher zu kurzfristigen Ansätzen der Adressierung von nicht näher bestimmte „Fluchtursachen“ geführt. Die EU wird wahrscheinlich auch feststellen, dass die Bindung von Entwicklungsgeldern an Zusammenarbeit bei der Grenzkontrolle für andere diplomatische und wirtschaftliche Bereiche nachteilig sein kann.
Anstelle des vorgeschlagenen Pakets, das wahrscheinlich umstritten sein wird, ist ein umfassenderer EU-Ansatz für die Zusammenarbeit mit Afrika im Migrationsbereich erforderlich. Die EU muss von restriktiven Ansätzen abrücken, die auf Grenzkontrollen und Kriminalisierung irregulärer Migranten basieren. Vielmehr muss sie mit Afrika eine ernsthafte Diskussion darüber führen, wie Migration Entwicklung und Wohlstand auf beiden Kontinenten fördern könnte. Die Afrikanische Union wäre dafür ein guter Partner. Eine solche Neuausrichtung wird jedoch nur möglich sein, wenn die EU ihre Fähigkeit wiedererlangt, international als einheitlicher und wertebasierter Akteur zu agieren. Die einseitige Verkündung einer gleichberechtigten Partnerschaft mit Afrika ist kein überzeugender Ausdruck dieses Potenzials. Eine nachhaltige Migrationspolitik gegenüber Afrika erfordert auf beiden Seiten einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, und die EU kann einen solchen Prozess nur dann realistisch einleiten, wenn er die internen Spaltungen und Bedrohungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt berücksichtigt.
Über die Autoren Irene Schöpfberger und Niels Keijzer