Es gibt Dinge, über die Kunden mit Marktforschern nicht sprechen. Dabei geht es meistens noch nicht einmal um besondere Geheimnisse, sondern lediglich um unbewusstes Wissen – zum Beispiel bei der gewohnheitsmäßigen Handhabung von Produkten. Für die Produktentwickler jedoch kann dieses Wissen Gold wert sein, weil es neue Produkte früh vor dem Scheitern bewahrt. Das RIF Institut für Forschung und Transfer und der Lehrstuhl für Marketing der TU Dortmund haben in einem Forschungsprojekt die Ethnografie, eine Methode aus der Anthropologie, die auf teilnehmende Beobachtung aufbaut, auf ihre Eignung für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) überprüft und weiterent­wickelt. Vorläufiges Fazit des Projektes INDUSTRIAL GEMBA: Die strukturierte Beobachtung am „Gemba“, wie die Japaner  den „Ort des Geschehens“ oder „Ort der Wertschöpfung“ nennen, kann Herstellern im B2B-Bereich sehr kostengünstig die entscheidenden Wettbewerbsvorteile verschaffen

Teilnehmende Beobachtung am „Gemba“, dem Ort des Geschehens, kann die Floprate von neuen Produkten senken. Foto: RIF

Ausgangspunkt für das Forschungsprojekt INDUSTRIAL GEMBA sind die seit Jahren extrem hohen Flop-Raten für neue Industriegüter. Zwischen 30 bis 95 % neu entwickelter Produkte können sich am Markt nicht etablieren. Fast die Hälfte aller Mittel für Entwicklung und Markteinführung versanden in gescheiterten Produkteinführungen oder in gar nicht erst lancierten Produkten. Allein in Deutschland könnte eine Senkung der Flop-Rate um 5 % Einsparungen in dreistelliger Millionenhöhe bringen, schätzt Prof. Dr. Robert Refflinghaus, Leiter der RIF-Abteilung Qualitätsmanagement.

Auf der Suche nach den Ursachen für die teuren Flops ist dem TU & RIF-Team eine kleine, aber entscheidende Informationslücke aufgefallen: Offensichtlich dringen selbst bei kleinen und mittleren Unternehmen, denen eigentlich eine hohe Kundennähe nachgesagt wird, die Bedürfnisse der konkreten Nutzer und Anwender von Produkten nicht bis zu den Entwicklern durch. „Oft bestehen Kontakte zwischen höherrangigen Vertretern beim Kunden. Diese bewerten theoretisch, etwa anhand technologischer Verbesserungen oder günstigerer Preise. Die Erfahrungen der Anwenderebene, wo die Produkte aber tatsächlich praktisch zum Einsatz kommen, werden viel zu spät erst berücksichtigt“, sagt Prof. Refflinghaus.

Gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Marketing der TU Dortmund wurde den Forschern am RIF schnell klar, wo die Schwierigkeiten für die Marktforschung liegen. „Viele Industrieprodukte werden beiläufig genutzt. Oft sind den Anwendern ihre Wünsche gar nicht bewusst. Selbst wenn sie bewusst sind, dann sind sie sprachlich schwierig zu beschreiben und daher folglich mit Fragebögen und Interviews auch kaum zu erfassen“, begründet Prof. Dr. Hartmut Holzmüller vom Lehrstuhl für Marketing der TU Dortmund den gewählten Ansatz aus der Anthropologie. Weil sie die Sprache indogener Völker nicht beherrschten, blieb den Anthropologen nur die Methode der teilnehmenden Beobachtung am „Gemba“, dem „Ort des Geschehens“. Unter der Bezeichnung „Gemba-Kaizen“ wurde der Ansatz in Japan weiterentwickelt, speziell auch für die Bewertung innovativer Produktentwicklungen, und wird  am RIF und an der TU Dortmund in verschiedenen B2B-Branchen erprobt.

Für das Projekt arbeitet Thorsten Autmaring, wissenschaftlicher Mitarbeiter der TU Dortmund, „im Feld“ an ganz unterschiedlichen „Orten des Geschehens“ mit. Zweimal im Handwerk, für Hersteller von Dachrinnen bzw. Bodenbeläge, und einmal auf einem Logistik-Umschlagplatz für einen Hersteller von Transportsicherungs­systemen. „Die Mitarbeiter der Kunden wissen, wer ich bin und was ich vorhabe. Ich hatte im Vorfeld nicht erwartet, dass sie unserem Projekt so offen gegenüberstehen. Viele haben sich gefreut, dass Sie endlich auch einmal  gefragt werden. Niemand hatte bisher Probleme damit, interviewt, fotografiert oder gefilmt zu werden“, berichtet der Marketing-Forscher. Bereits nach wenigen Tagen konnte Autmaring eine ganze Reihe von praktischen Anregungen für die Produktentwicklung liefern, die den Anwendern handfeste Vorteile verschaffen könnten – zum Beispiel bessere, neuartige Befestigungs- und Verbindungsmethoden aufgrund von Handhabungsvorteilen oder aber auch die Ausmerzung von Schwachstellen, die sich durch veränderte externe Bedingungen, etwa verschärfte Gesetzgebung, ergeben hatten.

In der Abteilung Qualitätsmanagement beim RIF fließen die Notizen, Fotos, Videos und Audio-Aufnahmen vom „Ort des Geschehens“ in ein Software-Tool, in Schulungsmaterial und einen Leitfaden ein. Damit wird die Methode für kleine und mittlere Unternehmen transparent und damit kalkulierbar gestaltet. Kostengünstiger als erwartet dürfte sie ohnehin sein. „Meist wird der Aufwand bei den Herstellern überschätzt. In den meisten Fällen genügen bereits wenige Tage Hospitanz beim Kunden, um herauszufinden, worauf es bei der Handhabung der eigenen Produkte wirklich ankommt. Das ist allemal günstiger als der Aufwand für eine monatelange Fehlentwicklung“, ist Christian Kern, wissenschaftlicher Mitarbeiter am RIF, überzeugt.

Das Projekt INDUSTRIAL GEMBA wird gefördert im Rahmen der Industriellen Gemeinschaftsforschung vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Das Forschungsprojekt wurde bereits auf mehreren wissenschaftlichen Konferenzen, wie auf der AMS Jahreskonferenz in New Orleans (USA) präsentiert. Auch auf der IMCD International Conference on Marketing and Design im Oktober letzten Jahres in Faro (Portugal) wurden erste Erkenntnisse vorgetragen und diskutiert.

Unternehmen, die sich für den kostenlosen Leitfaden und das Software-Tool interessieren, können sich per E-Mail an [email protected] vormerken lassen. Die Veröffentlichung wird zum Abschluss des Projekts im März 2019 erfolgen.