13.000 Flüchtlinge harren aus an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Sie sind jedoch keineswegs im ‚Niemandsland‘, sondern sind zwischen die geostrategischen und innenpolitischen Kalküle der EU und der Türkei geraten. Doch hier geht es nicht um Sicherheitsfragen, sondern um eine humanitäre Krise und um unser Verständnis von Europa als einer Wertegemeinschaft. Gerade in Zeiten von zunehmendem Rechtsextremismus in Europa und von Kriegen an Europas Grenzen sollten wir EU-Bürger*innen uns auf unsere Werte besinnen und unsere Kraft besser auf einen Umgang mit diesen reellen Gefahren konzentrieren, als Schreckensszenarien durch eine neue Einwanderung heraufzubeschwören.

Abschotten – auf dem Rücken der europäischen Wertegemeinschaft?

7.500 Menschen leben derzeit unter katastrophalen Bedingungen in einem für 648 Personen ausgelegten Camp auf der Ägäis-Insel Samos. Nur hundertfünfzig Kilometer nördlich, auf der Insel Lesbos, sind es 15.000 Menschen in einem Camp, das für 2.500 gedacht ist. Auf weiteren griechischen Inseln sieht es nicht viel besser aus – und jetzt verschlechtert sich zusätzlich die Situation auf dem Festland dramatisch. Die türkische Regierung hat nicht nur die Grenze zu Griechenland geöffnet, sondern bringt auch Flüchtende in Bussen dorthin, nicht zuletzt um eine europäische Unterstützung ihrer militärischen Intervention in Syrien zu erzwingen. Über 13.000 Menschen sind auf dem Festland an der türkisch-griechischen Grenze jetzt ohne angemessene Versorgung der Kälte und der Willkür von Sicherheitskräften und Kriminellen ausgesetzt.

Wollen wir als europäische Bürger*innen uns mit Nudeln und Desinfektionsmitteln eingedeckt abschotten, und damit einverstanden sein, dass die griechische Polizei –  mit Unterstützung der EU Staaten –  verzweifelte Menschen mit Tränengas und Wasserwerfern zurück ins Meer drängt? Wollen wir zulassen, dass Griechenland das internationale Recht, einen Asylantrag zu stellen, abschafft? Es ist nicht lange her, dass viele Deutsche in den 1930er Jahren nur durch Flucht ins Ausland überleben konnten, und viele Vertriebene aus dem heutigen Polen und Tschechien ab 1945 im damals besetzten Deutschland ein neues Zuhause fanden. Und während wir unsere Pressefreiheit hochloben, werden Journalist*innen auf Samos und anderswo von Rechtsextremen verprügelt und verjagt. Auch Kinderrechte gehören zu einem Grundpfeiler der EU-Charta – gleichzeitig aber werden Kinder auf Samos und anderswo über Jahre in einer derart desolaten Lage verwahrt, dass sie in totale Apathie verfallen. Über 5.000 unbegleitete Minderjährige sind Tag und Nacht der Gefahr von Übergriffen ausgesetzt und viele geraten in Kinderprostitution – mitten in Europa.

Wie können wir angesichts dieser humanitären Katastrophe wegsehen, schulternzuckend auf die Coronakrise und rechtsextreme Einstellungen in möglichen EU-Aufnahmeländern verweisen und zum Tagesgeschäft übergehen? Wer sich freiwillig den Todesgefahren der Flüchtlingsroute über das Mittelmeer aussetzt – alleine in 2019 gab es dort 1.300 Tote –, verdient Solidarität, nicht Kinderprostitution, Polizeigewalt, gewaltsame Übergriffe oder Verleumdungskampagnen. Nicht nur Erdogans Politik wird wie Bundeskanzlerin Merkel sagt „auf dem Rücken der Flüchtlinge“ ausgetragen. Unsere deutschen und europäischen engstirnigen Einzelinteressen sind an dieser Situation zu gleichen Teilen schuld.

Die Lehren aus 2015 ziehen: Weg vom Krisenmodus, hin zu win-win-Lösungen

Statt Katastrophenszenarien auszubreiten, sollten wir die Lehren aus dem Umgang mit dem Zuzug von Migrant*Innen und Geflüchteten in 2015 ziehen und vom aktuellen Krisenmodus umschalten auf eine Perspektive langfristig gewinnbringender Lösungen. Lernen aus 2015 heißt: Die Kapazitäten für Unterkünfte, medizinische Versorgung, Sprachunterricht, Bildung, und kulturelle Integration rechtzeitig und koordiniert ausbauen. Die sogenannte Krise in 2015 bestand vor allem darin, dass die aufnehmenden Einrichtungen hierzulande weder genügend Ressourcen noch ausreichend qualifiziertes Personal hatten. Dies führte zu einzelnen Skandalfällen, die durch Populisten ausgeschlachtet wurden – obwohl deren Warnungen vor angeblichem Islamismus und zunehmender Kriminalität sich als unbegründet erwiesen.

Es gibt heute zahlreiche fundierte Studien, die die Bedingungen für eine gelungene Aufnahme und Integration von Geflüchteten und Migrant*Innen untersucht haben. Trotz Herausforderungen wie häufig unzureichender Sprachkenntnisse, mangelnder Ausbildung, und Schwierigkeiten im Umgang mit deutschen Behörden, erfolgt die Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt heute deutlich schneller als noch in den neunziger Jahren.

Neben der moralisch gebotenen Solidarität mit den Flüchtenden, die angesichts des in Deutschland gefährlich erstarkenden Rechtsextremismus umso notwendiger ist, gibt es auch ganz rationale Gründe für eine Aufnahme der Menschen. Integrierte Zuwanderer werden letztendlich der schnell alternden deutschen Gesellschaft erhebliche wirtschaftliche Vorteile bringen. Sie können deutsche Unternehmen bei deren dringend gebotener Internationalisierung unterstützen und unserer exportorientierten Wirtschaft Vorteile für Auslandsaktivitäten bringen. Sie können helfen, den akuten Fachkräftemangel – alleine in der Pflege fehlen aktuell 30 000 Arbeitskräfte – auszugleichen. Eine koordinierte Aufnahme, und die Erweiterung und ausreichende Förderung von Integrationsmaßnahmen, zumindest innerhalb einer Kerngruppe von EU-Staaten einschließlich Deutschlands, wäre ein deutliches Zeichen dafür, dass wir Europäer*innen unsere Grundwerte nicht mit den Füßen treten, und wir unsere jüngere Geschichte nicht vergessen haben.

Über die Autoren Dr. Annabelle Houdret und Dr. Mark Furness