Ist Afrika der Corona-Pandemie schutzlos ausgeliefert? Dies scheint naheliegend, zwingt die Pandemie doch selbst Gesundheitssysteme in die Knie, die sehr viel besser ausgestattet sind als die vieler afrikanischer Länder. Doch diese Schlussfolgerung ist voreilig. Einige afrikanische Länder sind zum Teil sogar besser auf Pandemien vorbereitet als Europa und die USA. Warum das so ist und was reichere Länder sowie die Entwicklungspolitik daraus lernen können, zeigt ein Blick auf die erfolgreiche Bekämpfung des Ebola-Ausbruchs 2014 in Nigeria.
Lernen aus Erfahrung
Wie andere Länder Afrikas, hat auch Nigeria Erfahrung mit Infektionskrankheiten wie Cholera, Meningitis, Gelbfieber, Lassafieber oder Ebola. Während der bisher größten Ebola-Epidemie starben in Westafrika zwischen 2014 und 2016 11.325 Menschen. Die Zahl der Opfer wäre noch deutlich höher gewesen, wenn sich die Krankheit mit Nigeria auch im bevölkerungsreichsten Land des Kontinents verbreitet hätte. Ebola erreichte Lagos, die mit 21 Millionen Einwohnern größte Stadt Afrikas, am 20. Juli 2014. An diesem Tag landete dort der liberianische Diplomat Patrick Sawyer, der sich zuvor in Liberia bei der Beerdigung seiner an Ebola verstorbenen Schwester infiziert hatte. Doch entgegen allen Befürchtungen, von Lagos aus würde sich die Krankheit national und international ausbreiten, wurde der Ausbruch erfolgreich gestoppt.
Wie war dies möglich in einem Land mit schwachem Gesundheitssystem, regelmäßigen stundenlangen Stromausfällen und weit verbreiteter Korruption? Zunächst war wichtig, dass vom Zeitpunkt des positiven Testergebnisses an alle Akteure entschieden handelten. Der nigerianische Präsident rief den Notstand aus und stellte finanzielle Mittel zur Verfügung. Am Nigeria Centre for Disease Control (NCDC) wurde ein Ebola Emergency Operational Centre (EOC) zur Koordination der Maßnahmen eingerichtet. Entscheidend für die effektive Arbeit des EOC war, dass es auf das eingespielte Personal eines Programms zur Bekämpfung von Polio in Nigeria zurückgreifen konnte.
Die wichtigste Aufgabe des EOC war die Nachverfolgung der Kontakte von Sawyer. 150 Kontaktnachverfolger, von denen viele zuvor im Polio-Programm gearbeitet hatten, führten mehr als 18.500 Besuche durch und nutzen Mobilfunkdaten, um 894 Personen zu identifizieren, die einen direkten oder indirekten Kontakt mit Sawyer gehabt hatten. Diese Personen wurden über die maximale Ebola-Inkubationszeit hinweg überwacht (21 Tage). Entwickelten sie Symptome, wurden sie isoliert und bei positivem Testergebnis in ein Behandlungszentrum verlegt. Insgesamt erkrankten 2014 in Nigeria 20 Personen, von denen acht starben. Die WHO lobte die erfolgreiche Kontaktnachverfolgung unter schwierigsten Bedingungen als eine „Weltklasseleistung epidemiologischer Detektivarbeit“.
Was bedeutet dies für Corona in Nigeria und in Afrika? Aufgrund ihrer Erfahrungen mit Infektionskrankheiten haben viele afrikanische Länder in den letzten Jahren Strukturen zur Bekämpfung von Epidemien aufgebaut. Diese Maßnahmen und der zeitliche Vorsprung, den der Kontinent gegenüber anderen Weltregionen in der Corona-Pandemie hat, sind von Vorteil. Dies gilt aber nur in einem frühen Stadium, solange sich durch die Identifizierung und Isolation infizierter Personen die Infektionsketten noch unterbrechen lassen. Einer unkontrollierten Ausbreitung von Covid-19 hätten die meisten afrikanischen Länder aufgrund ihrer in der Breite schwachen Gesundheitssysteme kaum etwas entgegenzusetzen.
Von Nigeria lernen
Auch wenn Covid-19 und Ebola nur bedingt vergleichbar sind, können reichere Länder von Nigerias Erfahrungen lernen. Dies gilt insbesondere für die entschiedene Kontaktnachverfolgung, das umfangreiche Testen und die konsequente Isolation von Verdachtsfällen. Der Faktor Zeit ist dabei entscheidend: Je früher die Maßnahmen beginnen, umso eher können die Infektionsketten noch unterbrochen werden.
Der nigerianische Erfolg in der Bekämpfung von Ebola hält aber auch eine wichtige Erkenntnis für die internationale Entwicklungszusammenarbeit bereit: In ärmeren Ländern funktioniert nicht zwangsläufig alles schlechter als in reicheren Ländern. Was die Qualität von Regierungsführung und Verwaltung angeht, trifft dies in der Breite zwar oft zu, die lokalen Realitäten sind aber meist vielschichtiger. Schwache und leistungsfähige Institutionen existieren vielerorts nebeneinander. Unter dem Konzept der „pockets of effectiveness“ (Nischen der Effektivität) werden diese positiven Ausreißer in der Forschung erst seit kurzem untersucht. Nigerias Seuchenbekämpfungsbehörde NCDC ist eine solche Nische der Effektivität, wie die Organisation seit der Eindämmung von Ebola 2014 wiederholt unter Beweis gestellt hat.
In Ergänzung bisheriger Ansätze sollte die deutsche Entwicklungspolitik systematischer nach solchen Nischen der Effektivität suchen. Die Akteure hinter diesen Organisationen bieten vielversprechende Anknüpfungspunkte für nachhaltige Reformen sowohl in den Reformpartnerländern wie in fragilen Staaten. Unabhängig davon, wie sich die Zahlen der Covid-19-Infizierten in Afrika in den nächsten Monaten entwickeln, wird die globale wirtschaftliche Rezession den Kontinent schwer treffen. Zur Unterstützung des Wiederaufschwungs durch die deutsche und internationale Entwicklungspolitik wäre die gezielte Identifizierung und Unterstützung von Nischen der Effektivität und den Reformakteure dahinter ein wichtiger zusätzlicher Ansatz – im Gesundheitssektor und darüber hinaus.
Dieser Text ist Teil einer Sonderreihe unseres Formats Die aktuelle Kolumne, die die Folgen der Corona-Krise entwicklungspolitisch und sozioökonomisch einordnet. Sie finden die weiteren Texte hier auf unserer Überblicksseite.
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Über den Autoren Michael Roll