Ende März verhängte der indische Premierminister Narendra Modi eine dreiwöchige Ausgangssperre, um die weitere Ausbreitung des Corona-Virus abzuwenden. Seitdem machen sich Zehntausende Wanderarbeiter*innen, die vorher als billige Arbeitskräfte in den Häusern der Reichen oder auf den Baustellen der wachsenden Metropolen des Landes gearbeitet hatten, auf den Rückweg in ihre ländlichen Heimatregionen. Sie haben ihre Arbeit und oft auch Unterkünfte verloren und sehen aufgrund fehlender finanzieller und sozialer Absicherung kaum eine andere Möglichkeit, als zu ihren Verwandten ins Dorf zurückzukehren. Die Situation der Wanderarbeiter*innen steht stellvertretend für die im Zuge der Corona-Krise erhöhte Verwundbarkeit der benachteiligten Stadtbevölkerung in urbanen Räumen des globalen Südens. Darüber hinaus wirkt das Virus als Verstärker sozialer Ungleichheit. Maßnahmen für kurz- und längerfristiges Krisenmanagement und Resilienzstärkung angesichts Corona sollten daher stärker auch auf städtische Bedarfe hin ausgerichtet und durch die internationale Gemeinschaft unterstützt werden.

Aus gutem Grund wurde – auch durch das DIE -in den vergangenen Wochen immer wieder auf die Risiken der Verbreitung von COVID-19 in Ländern mit lückenhafter Gesundheitsversorgung, fehlender sozialer Sicherung und schwachen Volkswirtschaften hingewiesen. Die urbane Dimension der Krise wird bislang allerdings noch zu wenig beleuchtet. Auch in Ländern des globalen Südens werden zunehmend Schutzmaßnahmen wie Quarantäneauflagen, ‚Social Distancing‘ und intensivierte Hand- und Gesichtshygiene eingeführt. Sie sind aber in hochverdichteten und prekären urbanen Räumen kaum einzuhalten. Zu diesen gehören insbesondere Slums oder informelle Siedlungen, in denen weltweit über 1 Milliarde Menschen leben – Tendenz steigend. Diese Gebiete haben in der Regel eine hohe Wohndichte, unzureichende Wasser-, Abwasser- und Stromversorgung sowie soziale Dienstleistungen und sind durch unsichere Eigentumsrechte gekennzeichnet.

Das Virus kann sich in Slums oder informellen Siedlungen, die etwa in der kenianischen Hauptstadt Nairobi auf 10 Prozent der Stadtfläche 60 Prozent der Bevölkerung beherbergen, viel leichter ausbreiten. Ein kompletter ‚Shutdown‘ des öffentlichen Lebens, den die kenianische Regierung aktuell diskutiert, träfe die über zwei Millionen Menschen, die in Nairobi im informellen Sektor arbeiten, besonders hart. Ohne Vertrag und soziale Absicherung haben sie keinerlei Anrechte auf Kompensation. Ihre Lebens- und Wohnsituation erzwingt geradezu den Bruch mit den Schutzverordnungen. Darüber hinaus ist der Zugang zu Medikamenten und (guten) Krankenhäusern für arme Stadtbewohner*innen kaum bezahlbar. Für die knapp 100.000 Geflüchteten, die sich aufgrund der Lagerpolitik der Regierung inoffiziell in Nairobi aufhalten, verschärft sich die Situation ebenfalls erheblich.

Die Corona-Krise zeigt uns weltweit eine Kehrseite der Urbanisierung. Auch in Ländern des globalen Nordens wird das dem urbanen Leben innewohnende Versprechen auf persönliche und wirtschaftliche Entfaltung vorübergehend beschnitten. Im globalen Süden zeigt sich in dieser Krise aber noch viel deutlicher, wie wenig der Anspruch auf ein „Recht auf Stadt“, den der französische Sozialphilosoph Henri Lefebvre vor rund einem halben Jahrhundert formulierte, bislang eingelöst ist. Der Begriff bezieht sich auf einen de jure oder de facto abgesicherten Zugang der Stadtbevölkerung zu städtischen produktiven und kreativen Gütern und Orten, zu Dienstleistungen und zu Wissen. Dieser war bereits vorher nicht gegeben, die Pandemie wirkt aber als Verstärker der urbanen Verwundbarkeit und Ungleichheit.

Kaum zufällig setzten sich im Rahmen der Vorbereitung der dritten Weltkonferenz für Nachhaltige Stadt- und Wohnungsentwicklung (Habitat III), die 2016 in Quito, Ecuador, stattfand, insbesondere die Delegationen einiger Länder Lateinamerikas dafür ein, dieses „Recht auf Stadt“ in den Zielkatalog des Abschlussdokumentes zu integrieren. Lateinamerika gehört im weltweiten Vergleich zu den am stärksten urbanisierten Regionen. Gleichzeitig sind viele ihrer Länder (und Städte) von extremer sozialer Ungleichheit geprägt.

Obwohl sich gesellschaftliche Verwundbarkeit und Ungleichheit in den Städten und informellen Siedlungen konzentrieren, müssen Unterstützungsmaßnahmen in der Corona-Krise auf mehreren Ebenen, das heißt über die lokal-städtische Ebene hinaus, ansetzen. Auf Siedlungsebene ist es wichtig, dass lokale (Religions-, Migrant*innen- oder Jugend-) Gemeinschaften und deren Führungspersönlichkeiten Verhaltensregeln mit an die Öffentlichkeit kommunizieren, ihre Akzeptanz erhöhen und zu einer weiteren Verbreitung beitragen. Denn staatliche Institutionen und Ordnungskräfte genießen unter der benachteiligten Stadtbevölkerung – wie etwa den indischen Wanderarbeiter*innen – oft wenig Vertrauen, nicht selten verbunden mit früheren Vertreibungserfahrungen im Namen der Stadt(teil)sanierung. Städtische Verwaltungen und Dienstleistende sollten die community leaders organisatorisch, finanziell und mit Expertise unterstützen. Nationale Institutionen müssen kurzfristig aufgesetzte Hilfsmaßnahmen und –transfers sowie Systeme für den längerfristigen Umgang mit Krisen auf die Situation der armen städtischen Bevölkerung hin ausrichten, auch auf Gruppen mit eingeschränkter Rechtssicherheit.

Die internationale Gemeinschaft kann durch Beratung und finanzielle Unterstützung auf all diesen Ebenen wichtige Beiträge leisten. Sie käme damit den im Rahmen von Habitat III formulierten Visionen (der „Städte für alle“ und einem „Recht auf Stadt“) ein gutes Stück näher.

Über die Autorin Dr. Eva Dick.