Heute übernimmt Deutschland für sechs Monate die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union. Der Vorsitz steht unter dem Motto „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“. Schon vor der Corona-Pandemie stand mit den Verhandlungen zum Brexit und zum Mehrjährigen Finanzrahmen eine schwierige Agenda bevor. Als Teil der Budgetverhandlungen muss Deutschland jetzt zusätzlich den EU-internen Wiederaufbauplan auf den Weg bringen und damit die Weichen für eine sozial inklusive, ökologisch nachhaltige und wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft der EU stellen. Außerdem muss die Ratspräsidentschaft sich dafür einsetzen, dass sich die EU im geopolitischen Wettbewerb zwischen den USA und China positioniert und neue Allianzen findet.

Als größtes EU-Land hegen andere Staaten traditionell besonders hohe Erwartungen gegenüber Deutschland. Gleichzeitig sind die Einflussmöglichkeiten der EU-Ratspräsidentschaft durch den Lissabon-Vertrag seit 2010 stark begrenzt. Deutschlands letzte Präsidentschaft war in 2007. Die Schaffung eines dauerhaften Präsidenten des Europäischen Rates, derzeit Charles Michel, und eines Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik, derzeit Josep Borrell, haben dazu geführt, dass die Präsidentschaft weniger Kompetenzen im EU-Entscheidungsprozess und der Repräsentation der EU nach Außen innehat.

Inwiefern die Ratspräsidentschaft Einfluss nehmen kann, kommt stark auf die Umstände, auf sie selbst und ihre Beziehungen zu den EU-Institutionen und anderen Mitgliedsstaaten an. Grundsätzlich hat sie eher die Rolle, Prozesse zu strukturieren und Kompromisse zu fördern als die Agenda zu setzen. Die Präsidentschaft kann jedoch gerade in Krisenzeiten eine wichtige Rolle spielen. Beispielsweise kam 2016 dem niederländischen Vorsitz eine unerwartete Aufgabe bei der Verhandlung des EU-Türkei-Abkommens („Flüchtlingspakt“) zu, weil der damalige Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk sich primär auf die Verhandlungen mit Großbritannien im Vorfeld des Brexit-Referendums konzentrierte.

Zu Beginn ihrer Amtszeit hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Eckpunkte für einen European Green Deal vorgelegt und eine “geopolitische Kommission” eingefordert, die auch einen stärkeren Fokus auf die Reform multilateraler Institutionen setze. Dieser Kurs hat angesichts der Folgen der Corona-Pandemie an Bedeutung gewonnen, weil sie den geopolitischen Wettbewerb verschärft hat und die Transformation zur Nachhaltigkeit nur gelingen kann, wenn die Wiederaufbauprogramme dem nicht entgegenwirken.

Der deutsche Ratsvorsitz sollte sich daher dafür einsetzen, dass die Umsetzung des European Green Deal nicht nur EU-intern vorankommt. Zusätzlich sollte er auch dessen globale Dimension stärker in den Blick nehmen. Der Green Deal hat unmittelbare Auswirkungen auf Drittländer. Wenn die EU beispielsweise den Anteil erneuerbarer Energien erhöht, hat dies erhebliche Konsequenzen für erdölexportierende Länder in Afrika. Gleichzeitig bringt es für die globalen Klimaziele wenig, wenn die EU hier alleine voranschreitet. Da der Green Deal nicht nur eine Klima- sondern auch eine wirtschaftspolitische Agenda ist, bietet er die Chance mit internationalen Partnern in einen offenen Dialog über zukunftsfähige Gesellschaftsmodelle zu treten.
Während die USA durch die Corona-Pandemie stark erschüttert sind und die transatlantische Allianz Kollateralschäden erleidet, inszeniert sich China weltweit als Vorbild und verlässlicher Kooperationspartner bei der Pandemiebekämpfung. Um zumindest Teile der regelbasierten multilateralen Ordnung zu bewahren, braucht Europa dringend neue Partner. Die Kooperation mit afrikanischen Ländern gewinnt dadurch an Bedeutung. Die EU sollte deswegen die anstehenden Gipfeltreffen und insbesondere den vorgesehenen Gipfel mit der Afrikanischen Union (AU) nutzen, um ihre Beziehungen zu wichtigen globalen Partnern neu zu ordnen. Die EU sollte die Gelegenheit nutzen und sehr genau hinhören, welche Erwartungen afrikanische Partner an die EU richten. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Unterstützung der Panafrikanischen Freihandelszone. Auf dieser Basis sollten die AU-EU- Beziehungen dialogorientierter werden.
Durch die Corona-Pandemie bietet sich auch die Möglichkeit, endlich Fortschritte in der Integration der EU-Entwicklungspolitik zu machen. In Brüssel wird regelmäßig betont, dass die EU in der Entwicklungspolitik eine Supermacht sei, weil sie mehr als die Hälfte aller Entwicklungsgelder weltweit vergibt. In der Praxis haben die EU-Akteure ihre Entwicklungspolitik in den letzten Jahren zwar enger abgestimmt – seit April dieses Jahres auch unter dem „Team-Europe“- Ansatz. Von einem einheitlichen Auftreten ist die EU jedoch weit entfernt. Die EU-Integration in der Entwicklungspolitik kommt nicht durch Tabellen mit Finanzbeiträgen voran, sondern erfordert echte Investitionen und Anstrengungen im Bereich des „Working better together“. Dieser Ansatz sollte auch jenseits der Corona-Pandemie ausgebaut werden und zu einer echten Vertiefung der Zusammenarbeit führen.

In der Geschichte der EU haben Krisen eine wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprojektes gespielt. Die deutsche Präsidentschaft erfolgt nun inmitten einer solchen Krise. Die Agenda der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist damit eine Herkulesaufgabe und gleichzeitig eine riesige Chance, zentrale Weichen für eine verantwortungsvolle globale Rolle der EU zu stellen.

Über die AutorInnen Dr. Christine Hackenesch, Dr. Niels Keijzer und Dr. Julian Bergmann