Wer an die Zukunft denkt, hat oft das Bild von selbstfahrenden Autos vor Augen, angesichts einer fortschreitenden Digitalisierung. Autonom fahrende PKW sind dabei im Jahr 2020 keine Besonderheit mehr. KI-Technologien und intelligente Steuerungen spielen allerdings nicht nur im privaten Bereich eine wichtige Rolle, sondern auch in der Industrie, mit besonderem Blick auf die sogenannte Industrie 4.0. Für die deutsche Volkswirtschaft sind dabei aktuell autonom fahrende Binnenschiffe von großer Bedeutung. Sie könnten den Straßen- und Schienenverkehr entlasten und für neue, moderne und zukunftssichere Arbeitsplätze sorgen.

Das JRF-Institut DST – Entwicklungszentrum für Schiffstechnik und Transportsysteme aus Duisburg forsch seit längerem auf diesem Gebiet. Im Rhein-/Ruhrgebiet ist eine solche Forschung natürlich zu Hause, da es hier direkte Anschlüsse an Europas meistbefahrene Wasserstraße gibt. Nach langen Vorbereitungen wird am 22. Oktober 2020 das Versuchs- und Leistungszentrum Autonome Binnenschiffe, kurz „VeLABi“ eröffnet, in dem Simulationen der selbstfahrenden Schiffe erfolgen werden. DST-Vorstandsmitglied und Geschäftsführer Dr. Rupert Henn berichtet der JRF von dem innovativen Forschungsprojekt in einem exklusiven Interview:

Was überhaupt ist „VeLABi“?

Das VeLABi ist ein Versuchs- und Leitungszentrum für autonome Binnenschiffe. Es wird als ein virtuelles Testfeld zum Erproben und Erlernen des autonomen Fahrens genutzt. Die Computer sollen durch Simulationen lernen, selbstständig zu fahren und auf alle möglich denkbaren Situationen zu reagieren. Wenn das erfolgreich funktioniert, dann kommt der zweite Schritt: Diese Steuerungstechnik wird im realen Testfeld erprobt, also direkt auf dem Gewässer, wo die Versuche durchgeführt werden. Im VeLABi wurde ein 360-Grad-Projektionssystem errichtet, in dem die Simulationen erlebbar sind. In einer späteren Testphase sollen die Binnenschiffe aus dem Leitungszentrum ferngesteuert werden, beispielweise im Fall einer Fehlermeldung des Schiffes. Auf dem Schiff kann schließlich manuell eingegriffen und das Problem gelöst werden. Finanziert wird das Projekt zu 90 Prozent vom Verkehrsministerium des Landes NRW.

Warum brauchen wir automatisierte Binnenschiffe?

Wir haben Personalengpässe auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Es gibt immer weniger qualifizierte Schiffsführer, obwohl die Wichtigkeit des Berufes zunimmt. Der osteuropäische Arbeitsmarkt, aus dem die meisten Schiffsführer in Deutschland stammen, ist sozusagen leer. Zudem ist unser Straßen- und Schienenverkehr dramatisch ausgelastet und hat kaum noch Kapazitäten. Der Wasserverkehr hat noch sehr viel Potenzial, das durch automatisierte Steuerungssysteme sogar erweitert werden könnte. Auch, weil die Betriebsdauer eines solches Binnenschiffes von 14 auf sogar 24 Stunden erhöht werden.

Wie genau lernen die Computer das autonome Fahren?

Die eingesetzte künstliche Intelligenz steckt ehrlicherweise noch in Kinderschuhen. Digitale Assistenzsysteme gibt es bereits fast überall, beispielsweise im Auto oder im Flugzeug. Allerdings können diese beim Fahren nur assistieren und nicht selbstständig fahren. Dafür braucht es andere Algorithmen, die entwickelt werden müssen. Im VeLABi erfolgt dieses Training hauptsächlich unsichtbar, in der „Blackbox“. Dort werden realitätsnahe Situationen mehrmals simuliert, sodass das System die passenden Reaktionsabläufe speichert. Die künstliche Intelligenz lernt und entwickelt die Algorithmen also, indem sie immer wieder verschiedene Szenarien durchfährt. Im Prinzip muss die KI zuerst lernen, geradeaus zu fahren. Dann folgt Schritt für Schritt der Rest. Das eingerichtete Projektionssystem hilft unseren SchiffsführerInnen dabei, sich auf das automatisierte Fahren, oder besser gesagt auf die Überwachung dessen, zu konzentrieren.

Der Schiffsführer steuert also das alleinfahrende Binnenschiff aus der Ferne. Das klingt hochgradig widersprüchlich. Ist es letztendlich Fernsteuerung oder autonomes Fahren?

Bis wir unsere Binnenschiffe völlig unabhängig und alleine auf den Gewässern fahren lassen können, wird es noch mehrere Jahre dauern. Bis dahin arbeiten wir daran, das Vorhaben stufenweise voranzubringen. In der ersten Stufe befindet sich der Schiffsführer noch mit am Bord. Sukzessive werden seine Aufgaben weniger, bis er schließlich nur noch von der Leitstelle aus das Schiff überwacht. Vorerst sprechen wir daher von einer Mischung aus Fernsteuerung und autonomem Fahrens.

Wie sicher können solche Schiffe im Idealfall sein?

Nach meinem Verständnis reicht es, wenn das Betriebssystem genauso sicher ist wie der Schiffsführer. Das heißt, wenn der Computer nicht mehr Fehler macht als dieser, haben wir uns grundsätzlich schon mal nicht verschlechtert. Von der Erwartung der Öffentlichkeit, dass der Computer keine Fehler macht und autonomes Fahren daher grundsätzlich fehlerfrei geschieht, müssen wir uns dringend trennen. Keine Technik ist grundsätzlich fehlerfrei und wird sie meiner Meinung nach auch nie sein. Es muss immer damit gerechnet werden, dass Situationen plötzlich auftreten, die dem Algorithmus völlig unbekannt sind. In solchen Fällen kann es passieren, dass er eine falsche Entscheidung trifft. Andere Fehler werden dafür voraussichtlich nicht mehr auftreten.

Welche Erfolge versprechen Sie sich vom Projekt?

An erster Stelle, dass die Attraktivität und die Bedeutung der Binnenschifffahrt im Güterverkehr zunehmen. Das Konzept des Smart Shippings soll den Beruf des Schiffsführers in der Gesellschaft wiederbeleben und attraktiver für junge Menschen machen. Der Beruf an sich wird sich erheblich ändern, denn die Fernsteuerung und Überwachung der Schiffe wird nicht mehr direkt an Bord, sondern eher vom Land aus erfolgen. Das heißt, der Schiffsführer wird mit der Zeit einen „normalen“ Bürojob haben. Die Arbeit des Schiffsführers wird wie bei einem Videospiel ablaufen, bei dem der Schiffsführer sogar zwei Schiffe auf einmal steuern könnte. So würden sich die Personalengpässe bewältigen lassen. Zudem erhoffen wir uns auch eine stärkere Wettbewerbsfähigkeit der Binnenschiffe zu den anderen Verkehrsträgern. Im Rahmen unseres Projekts möchten wir auch kleinere Binnenschiffe mit in den Wettbewerb holen und so kleine und mittelständige Unternehmen stärken.

Wann wird VeLABi eröffnet?

Offiziell am 22.10.2020 durch den Staatssekretären im Verkehrsministerium NRW, Dr. Hendrik Schulte im Rahmen einer JRF-vor-Ort-Veranstaltung, zu der man sich noch anmelden kann unter www.jrf.nrw/velabi.

Sind auch andere JRF-Institute an dem Projekt beteiligt?

Noch nicht, aber das könnte sich ändern, wenn das Projekt einmal angelaufen ist. Anknüpfungspunkte gäbe es zu anderen Duisburger JRF-Instituten wie dem IUTA – Institut für Energie- und Umwelttechnik, das Emissions-Messungen in Häfen und von Schiffen vornehmen könnte. Mit dem ZBT – Zentrum für BrennstoffzellenTechnik haben wir bereits ein gemeinsames Projekt zu Binnenschiffen mit Brennstoffzellen und elektrischen Antrieben durchgeführt („E-Binnenschiff“). Auch mit dem Dortmunder RIF – Institut für Forschung und Transfer gab es gemeinsame Projekte zum Themenkomplex neue Logistikkonzepte („DeConTrans“). Eine erneute Zusammenarbeit im Bereich der automatisierten Umschlagssysteme im HaFoLa wäre denkbar. Mit dem AMO – Gesellschaft für Angewandte Mikto- und Optoelektronik könnte ich mir in Zukunft eine Zusammenarbeit im Bereich Sensorik vorstellen. Wenn es um Fragen von Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz geht, ist das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie die erste Adresse in NRW und darüber hinaus. Nicht zuletzt bringt das ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung interessante Perspektiven bei der Einbindung von Häfen und Logistik in Stadtentwicklungskonzepte mit.

Das Interview führte am 07.10.2020 Elena Filip, Praktikantin in der Geschäftsstelle der Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft.