Zehn Jahre nach dem Beginn der Arabellion ist einer der wenigen positiven Ausblicke der auf die Präsidentschaft von Joe Biden. Eine Biden/Harris-Administration bietet Potenzial für kleine, aber katalytische Veränderungen für die MENA-Region. In der neuen Administration werden Deutschland und Europa einen Partner finden, der daran interessiert ist, die Wurzeln der Konflikte im Nahen Osten und Nordafrika (MENA) anzugehen und nach der aktuellen Pandemie zukunftsfähigere Gesellschaftsverträge in den Ländern zu schaffen. Zweifellos wird sich Biden zunächst auf innenpolitische Herausforderungen konzentrieren müssen, wie den Umgang mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie, die Überwindung der extremen Polarisierung zwischen den politischen Lagern, die Wiederbelebung des Wachstums, die Eindämmung des übermäßigen Einflusses der Waffenlobby und die Instandsetzung der US-Diplomatie und Entwicklungspolitik. In der MENA-Region wird er versuchen, einige der von Präsident Trump getroffenen Entscheidungen zu revidieren. Die umstrittene Ernennung von Reema Dodin, einer Amerikanerin mit palästinensischen Wurzeln, als Teil seines Teams für Gesetzgebungsfragen, deutet neben den Plänen zur Aufhebung von Trumps faktischem Einreiseverbot für Muslime darauf hin, dass es Potenzial für mutige neue Agenden gibt – sowohl innenpolitisch als auch in Bezug auf die MENA-Region.

Die Herausforderungen für Frieden und Entwicklung haben in der MENA-Region seit dem letzten Machtwechsel in den USA vor vier Jahren zugenommen. Das liegt zum Teil an Trumps außenpolitischer Verweigerung: Er hat nichts getan, um in Konflikten zu vermitteln (z.B. im Jemen, in Libyen, in Syrien), sondern offen regionale Mächte gestärkt und deren Beteiligung an diesen Konflikten und die Verletzung von Völkerrecht und Menschenrechten geduldet. Kritisch anzumerken ist, dass Trump die MENA-Länder nicht dazu veranlasst hat, einen inklusiven Wandel hin zu partizipativeren und egalitäreren Gesellschaftsverträgen zu betreiben.

Die nächste US-Administration wird in der MENA-Region eine andere Strategie verfolgen, aber sie wird sich wahrscheinlich nicht allzu sehr in der Region engagieren können, sodass ein stärkeres Engagement Europas ein willkommener Beitrag zur Entschärfung der Konflikte in dieser Region wäre. Die Biden-Administration wird mit dem sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Pandemie im eigenen Land gut beschäftigt sein und dies bei einer bereits exzessiven Staatsverschuldung. Sie wird daher kaum bereit sein, sich in der MENA-Region über den derzeitigen Stand der Beteiligung hinaus finanziell oder militärisch zu engagieren. In Abhängigkeit von einem erneuten Beitritt zu einem verbesserten Nuklearabkommen mit Iran („JCPOA+“) wird Präsident Biden wahrscheinlich Trumps wahllose Sanktionen gegen Iran und dessen Bevölkerung aufheben: Die Sanktionen zielen implizit auf den Sturz des Ayatollah-Regimes ab, stärken aber in Wirklichkeit die Hardliner im Iran. Im Irak könnte Biden – wie zuvor unter Obama – innovative außenpolitische Ansätze verfolgen, indem er die Übertragung von Macht im Irak auf föderale oder sogar unabhängige Staaten fördert: einen für die Kurden im Norden und einen für den Rest des Landes. Solche Ansätze sind womöglich auf Länder übertragbar, die durch externe Intervention Schaden genommen haben, z.B. Libyen. Aber Bidens Position zu vielen anderen Themen ist noch nicht klar – er könnte durchaus versuchen, die Beziehungen zu Saudi-Arabien neu zu ordnen und bei der Frage der Intervention im Jemen defensiver agieren.

Auch bleibt die Frage offen, ob die USA ein Partner für Autokraten, Reformer oder für beide sein werden. Biden wird einen verlässlichen, prinzipienorientierten Ansatz finden müssen, um mit Verbündeten zusammenzuarbeiten, Beziehungen zu reparieren und Entscheidungen im Interesse eines nachhaltigen Wandels für die Region zu treffen – in dessen Zentrum inklusive und auf die jeweilige Situation abgestimmte Gesellschaftsverträge stehen. Er wird und kann angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen im eigenen Land nicht wie frühere Präsidenten versuchen, den Ordnungshüter in der Region zu spielen.

Vor dem Hintergrund dieser Analyse wird eine neue Bundesregierung ab Herbst 2021 außen-, bündnis- und entwicklungspolitisch gegenüber der MENA-Region aktiv werden müssen. Schon jetzt ist Deutschland zusammen mit der EU der größte Geber bei Bemühungen um eine Stabilisierung der verfahrenen Situation in der Syrienkrise und im Irak, und Deutschland leistet einen entscheidenden Beitrag zur Unterstützung nachhaltiger Postkonfliktordnungen in der Region. Zusammen mit einer kohärenteren EU-Nachbarschaftspolitik im Süden und einer zunehmend regelbasierten US-Politik könnten die Bürger der MENA-Region wieder Mut und Resilienz gegen maligne innere und äußere Kräfte gewinnen. Und was noch wichtiger ist: für die Menschen der Region könnten erhebliche Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, sodass die Hoffnungen des Arabischen Frühlings – nach nunmehr einem Jahrzehnt – endlich verwirklicht werden können.

Über den Autor Prof. Dr. Bernhard Trautner