Gesellschaften des Globalen Nordens sind die Unsicherheiten und Ungewissheiten der letzten Jahre nicht gewohnt. Nach einer kontinuierlichen Phase des Wohlstands hinterließen die Folgen der globalen Wirtschaftskrise, die „Migrationswelle“ 2015 sowie die andauernde COVID-19-Pandemie gewaltige Spuren in der Gesellschaft. Gerade in derart schweren Zeiten ist ein Konsens darüber, was Gesellschaften zusammenhält, und wie wir Meinungsverschiedenheiten lösen, von besonders großer Bedeutung.

Zu Beginn der COVID-19-Pandemie hatten viele „gepredigt“, dass die Krise die Menschen zusammenschweißen werde – doch weit gefehlt. Das Fundament unserer offenen Gesellschaften bröckelt. Eine aktuelle Studie kommt zum Schluss, dass der Zusammenhalt in Deutschland während der Pandemie im Durchschnitt zwar relativ hoch war, doch bestimmte soziale Gruppen (mit einem niedrigeren Bildungsstand und geringerem Einkommen) drifteten weiter auseinander. Werte wie politische Gleichheit und Menschenwürde, von denen wir annahmen, sie wären in unserer Gesellschaft tief verwurzelt, werden jetzt offen infrage gestellt.

Eine gewaltige Herausforderung, vor der offene Gesellschaften stehen, ist es, die Schwächen und Widersprüche, die sich in den letzten Jahren offenbarten, beim Namen zu nennen. Eine Debatte hierüber wird unerlässlich, um inklusive und demokratische Systeme zu bewahren und sich über gemeinsame Wertevorstellungen zu verständigen.

Zusammenhalt und Demokratie als Fundament für gemeinwohlorientierte Gesellschaften

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist nicht nur im Umgang mit Krisen essenziell, sondern auch ein wichtiger Grundpfeiler für Frieden und Wohlstand. Starke Bindungen innerhalb einer Gesellschaft bedingen mehr Lebensqualität, Wirtschaftswachstum und Gesundheit. Zusammenhalt bildet auch die Grundlage, um Interessen und gemeinsame Werte aushandeln zu können. So sind vertrauensvolle und kooperative Beziehungen zwischen Staat und Bevölkerung Voraussetzung dafür, dass Gesellschaften Gemeinwohl definieren und erreichen können.

Demokratien bieten nicht nur entscheidende Vorteile bei der Bereitstellung öffentlicher Güter, sondern sind auch die einzigen politischen Systeme, die Diversität und unterschiedliche Meinungen tolerieren und durch inklusive Verfahren moderieren. Offenheit, Partizipation und Rechtsstaatlichkeit schaffen Raum für Debatten über Gemeinwohl und Werte, was wiederum gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern kann.

Unglücklicherweise leiden gesellschaftlicher Zusammenhalt und Demokratie weltweit. Die beschleunigte „dritte Autokratisierungswelle“ führt dazu, dass heute ein Drittel der Weltbevölkerung – also 2,6 Milliarden Menschen – in Staaten lebt, in denen Autokratie auf dem Vormarsch ist. Über gesellschaftlichen Zusammenhalt sind weltweit nur wenige Zahlen verfügbar und diese sind recht ungenau. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) trägt dazu bei, diese Lücke zu schließen. Aber beobachtbare Entwicklungen sind ebenso besorgniserregend.

Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt gehören prominent auf die Tagesordnung

Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Demokratie sind nichts Selbstverständliches. Sie müssen gehegt, gepflegt und geschützt werden. Der bröckelnde Zusammenhalt und demokratische Zerfall herrschen nicht nur im Globalen Norden, sondern weltweit vor. Ebenso wie bei der globalen Pandemie besteht internationaler Handlungsbedarf. Regierungen und internationale Organisationen sind sich dieser Notwendigkeit bewusst und riefen jüngst neue Initiativen ins Leben. Auch die deutsche Entwicklungspolitik definierte gesellschaftlichen Zusammenhalt als eines ihrer strategischen Kernthemen.

Das sind positive Entwicklungen, doch es gibt noch Luft nach oben. Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind mehr als ein hübsches Beiwerk. Sie sollten als Leitlinien für jegliches Handeln dienen. Zudem ist ein kontinuierlicher politischer Dialog über Demokratie und Zusammenhalt in verschiedenen Kontexten und zwischen Partnern eine hervorragende Gelegenheit, Entwicklungspolitik und -praxis zu überdenken. Der offene und konstruktiv-kritische Austausch von Ideen über diese gesellschaftspolitischen Grundlagen kann eine Transformation internationaler Zusammenarbeit ermöglichen – weg von einem Paradigma des Wissenstransfers vom Globalen Norden in den Globalen Süden hin zu einer Kultur der Reziprozität und Mitgestaltung.

Die Aushöhlung unserer gesellschaftlichen Fundamente verdient auch in der öffentlichen Debatte in Deutschland eine herausragende Stellung. Die bevorstehenden Bundestagswahlen sind eine hervorragende Gelegenheit, kritisch und ehrlich über unser Verständnis von gesellschaftlichem Zusammenhalt und Demokratie zu diskutieren, sowie auch darüber, wie wir sie auf nationaler und internationaler Ebene fördern wollen. Zynische und einseitige Medienkampagnen wie #allesdichtmachen könnten die Spaltung vertiefen, anstatt solch einen Dialog zu fördern. Es braucht eine produktive Debatte zwischen unterschiedlichen Standpunkten. Wenn wir dabei andere Meinungen respektieren und bereit sind, auch eigene Standpunkte zu überdenken, könnten diejenigen, die in der Pandemie eine Chance für mehr Zusammenhalt sahen, letztendlich doch Recht behalten.

Über die AutorInnen Dr. Julia Leininger und Armin von Schiller.