Der Krieg in der Ukraine hält seit rund einem Monat alle in Atem. Prof. Dr. Andreas Heinemann-Grüder, Experte für Konflikt- und Friedensforschung am JRF-Institut BICC – Bonn International Centre for Conflict Studies gibt eine persönliche Einschätzung zur Lage und erklärt, wo Stärken und Schwächen der Versuche zur Friedensfindung liegen.

Prof. Dr. Andreas Heinemann-Grüder, Experte für Konflikt- und Friedensforschung am JRF-Institut BICC – Bonn International Centre for Conflict Studies

Wie lange forschen Sie schon am BICC, seit wann beschäftigen Sie sich explizit mit dem Thema des Ukraine-Konflikts?

Heinemann-Grüder: Mit Unterbrechung bin ich seit 1999 am BICC. Mit der Ukraine habe ich mich immer wieder nach Auflösung der Sowjetunion beschäftigt. Beispielsweise hatte ich 1992 ein Projekt zum Aufbau der Streitkräfte in der Ukraine nach der Unabhängigkeit und 2000 ein Projekt, das sich mit der Rüstungskonversion in der Ukraine befasste. Seit 2015 bearbeite ich zwei Projekte, die sich sowohl mit den irregulären bewaffneten Truppen beschäftigen als auch mit dem De-Facto-Regime, das unter russischer Kontrolle in der Region Donbas entstanden ist.

Hätten Sie vermutet, dass es zum Kriegsfall kommt, oder waren auch Sie am 24. Februar überrascht?

Heinemann-Grüder: Es gab sehr unterschiedliche Meldungen und ich habe die Wahrscheinlichkeit eines Krieges eher für hoch gehalten, der russische Truppenaufmarsch ließ sich kaum missdeuten. Kurz vor dem Kriegsbeginn war ich in Armenien und vor der Abreise schon besorgt, ob der Luftraum gesperrt würde. Ich bin am 11. Februar nach Jerewan geflogen und vor dem Abflug habe ich gesagt „hoffentlich wird in den nächsten 14 Tagen der Krieg nicht beginnen, sonst könnte es mit dem Rückflug über dem ukrainischen Luftraum schwierig werden“. Aber ich bin zwei Tage früher zurückgekommen und dann erst begann der Krieg.

Rückblickend waren jedoch die einzigen, die den Krieg vorhergesehen haben, die Amerikaner. Denn auch die EU und insbesondere die Bundesregierung haben Berichte über den russischen Truppenaufmarsch lange Zeit als Säbelrasseln der Amerikaner abgetan. Ich muss eingestehen, dass ich selbst unter dem Einfluss von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen der Bundesrepublik und auch von Einschätzungen von Militärs die Gefahr nicht hoch genug eingeschätzt habe, d.h. ich habe den Einwänden der „Abwiegler“ doch auch partiell nachgegeben.

Was genau war der Tropfen, der nach dem jahrelang schwelenden Konflikt das Fass zum Überlaufen brachte und dazu führte, dass Russland genau jetzt den Krieg begonnen hat?

Heinemann-Grüder: Es sind mehrere Faktoren, die zusammengekommen sind. Einer ist, dass die Russen im Grunde genommen schon im November letzten Jahres signalisiert haben, dass sie keine Verhandlungen mehr im sogenannten Normandieformat über den Status der beiden Volksrepubliken Donezk und Luhansk führen wollten. Sie wollten den Zustand revidieren, der seit 2014 entstanden war. Putin sah Deutschland, die EU und die USA als schwach an. Wie bereit die russische Führung sein würde, die gesamte Ukraine zu erobern, war und ist allerdings nach wie vor unklar. Ich glaube, die Vermutung bei den Russen war, dass sie mit einer Blitzoperation in maximal einer Woche das gesamte Problem lösen können. Da haben sie sich verkalkuliert.

In einem Fernsehbeitrag Anfang Januar sprachen Sie davon, dass Sanktionen im Falle eines russischen Angriffes in Planung sind und die Grenzen der Sanktionen dann ausgetestet werden. Würden Sie heute sagen, dass der Plan aufgeht und wir bei den maximalen Sanktionen angekommen sind?

Heinemann-Grüder: Die Sanktionen sind das erste Mal geschlossen mit den Amerikanern zusammen verabschiedet worden und sie haben ernsthafte und nachhaltige Auswirkungen auf die russische Wirtschaft, d.h. auf die Inflation, auf die Zahlungsfähigkeit, Exporte, den Zugang zu Software, auf die Möglichkeit, die eigene Luftfahrt aufrecht zu erhalten. Die EU-Staaten und die Amerikaner operieren nicht separat, sondern aufeinander abgestimmt. Die Russen sind angesichts dieser Geschlossenheit sicherlich überrascht gewesen, denn das war 2014/2015 nicht der Fall. Die Grenze machbarer Sanktionen ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Die Finanzflüsse von Deutschland nach Russland sind sogar seit dem Krieg höher als sie davor waren, und zwar gegenüber den russischen Banken Sberbank und Gazprombank, die von den Sanktionen ausgenommen sind. Hier könnte man natürlich sagen „Wir stoppen Transfers“ oder legen das Geld auf ein Treuhandkonto, weil diese Finanzflüsse den Krieg finanzieren. Es sind weitere Sanktionen möglich, die zum Beispiel Teile des Internets betreffen. Man kann auch Großserver in Russland treffen, indem man Softwareupdates einstellt. Es gibt geschätzt 200 russische Spione in Deutschland, die kann man ausweisen. Es operieren in Deutschland mehrere Organisationen, die als „Einflussagenten“ des russischen Staates bzw. sogar der russischen Geheimdienste tätig sind. Das ist ein Fall für den Verfassungsschutz. Hier gäbe es ein ganzes Repertoire. Zudem wären Sekundärsanktionen möglich. Russland versucht über China und andere verbündete Staaten Sanktionen zu umgehen und an Finanzmittel zu kommen. Hier könnte man ein Zeichen setzen, indem man auch Kooperationspartner Russlands mit Sanktionen bestraft.

Das würde aber auch bedeuten, dass man zunehmend das Risiko eingeht, sich ins eigene Fleisch zu schneiden?

Heinemann-Grüder: Wir müssen uns Rechenschaft darüber ablegen, ob wir alles dazu beitragen, den Krieg in den nächsten zwei bis drei Monaten zu beenden. Heute massiv alle Maßnahmen auf den Tisch zu legen, würde gewiss schmerzhafte Folgen haben, aber ein langer Krieg würde noch weitaus stärkere Schäden für die europäische Wirtschaft anrichten. Unter anderem, weil wir mit bis zu 10 Millionen oder mehr Flüchtlingen zu rechnen haben, weil das Ausmaß der Zerstörung in der Ukraine wächst und Wiederaufbaumaßnahmen auch durch europäische Staaten bezahlt werden müssen. Das heißt, wenn wir jetzt durch ein Tal der Tränen durchgehen, dann kann es später kürzer sein. Besser harte Schnitte heute, die dann lang hingestreckte Kosten für die EU reduzieren können. Aber ich glaube, diese Botschaft ist noch nicht überall angekommen, dass man den Krieg jetzt beenden muss, weil die Folgen und Kosten andernfalls nur noch enormer werden.

Neben den Sanktionen seitens der Politik haben sich erstmals auch zivile Bereiche an Maßnahmen beteiligt und Russland im alltäglichen Handel, im Sport oder, wie am Beispiel der gemeinsamen Erklärung von Land und Hochschulen in NRW zu sehen ist, auch in der Wissenschaft ausgegrenzt. Sehen Sie hier eine Wirkung oder ist es ein Tropfen auf den heißen Stein?

Heinemann-Grüder: Es zeigt den Russen, dass wir hier nicht nur davon ausgehen, dass es Putins Krieg ist, sondern dass es ein Krieg ist, an dem auch die russische Gesellschaft mitwirkt und den sie auch mit ermöglicht hat. Es ist der Aufruf an die russische Gesellschaft, sich selbst zu positionieren, für oder gegen den Krieg. Wir sehen, dass es russische Oppositionelle gibt, die sich als ausländische Agenten registrieren lassen müssen. Das „andere Russland“ sollten wir nach Möglichkeit mit Stipendien und Programmen für WissenschaftlerInnen, die unter Risiko leben, stützen. Aber meines Erachtens ist es ein notwendiges Signal, dass sich die Russen entscheiden müssen, ob sie mit Putin den Krieg weiterführen wollen oder sich davon glaubwürdig distanzieren. Bisher folgt ein nicht unerheblicher Teil der russischen Gesellschaft dem Putinschen Narrativ vom anti-nazistischen Kampf in der Ukraine. Auch wenn einige meinen, wir würden „Russophobie“ fördern, gilt es, ein klares Zeichen zu setzen: Wir sind solidarisch mit Putins Kritikern, aber entschlossen gegenüber seinen Unterstützern.

Aber ist es nicht ein schmaler Grat, dass dadurch auch die in Deutschland lebenden Russen eine nicht gerechtfertigte Anfeindung erleben?

Heinemann-Grüder: Wir müssen davon ausgehen, dass ein großer Teil, zumindest derjenigen Russischsprachigen, die einen russischen Pass haben, auch in der Vergangenheit an Wahlen in Russland teilgenommen hat und überproportional für Putin gestimmt hat. Insofern sind diejenigen, die neben dem deutschen auch einen russischen Pass haben, auch mediale Unterstützer des putinschen Krieges. Wir sehen nicht nur Anti-Putin-Demonstrationen, sondern vom Kreml arrangierte, patriotische Autokorsos in Deutschland und anderen EU-Ländern. Die den Eindruck vermitteln sollen, die Russen seien die eigentlichen Opfer des Krieges. Dass man sich mit denjenigen auseinandersetzt, die als Multiplikatoren von Desinformation und Propaganda auch in Deutschland wirken, halte ich für notwendig. Aber natürlich sollen nicht alle, die russisch sprechen, gleichsam in Sippenhaft für die Politik Putins genommen werden. Es gibt auch große Demos in Köln oder Berlin von Russen und Ukrainern gemeinsam, die sich gegen diesen Krieg gestellt haben und dies zum Teil auch täglich vor der russischen Botschaft in Berlin tun. Man muss unterscheiden zwischen dem pro-putinschen Lager und den Kritikern.

Hier in NRW spüren wir anhand der regelmäßigen und großen Demonstrationen eine Welle der Solidarität. Es werden Friedenskonzerte organisiert und Spenden gesammelt. Sind diese Zeichen groß genug oder letztlich nur eine Impulshandlung für das eigene Gewissen und PR-Maßnahmen?

Heinemann-Grüder: Es ist natürlich ein moralischer Ablasshandel, weil wir bis zum 24.2. parteiübergreifend die Position vertreten haben, dass die Ukraine kein Recht auf Selbstverteidigung hat und wir ihnen bestenfalls Helme und erste Hilfe zukommen lassen, aber keine Waffen. Insofern haben diese Aktionen den Charakter, sich vom schlechten Gewissen weiß waschen zu wollen, das durch die vorherige Beschwichtigungspolitik zustande gekommen ist. Auf der anderen Seite ist es für die Ukrainer moralisch außerordentlich bedeutsam zu wissen, dass sie nicht allein sind. Ich habe jeden Tag mehrfach Kontakt zu Ukrainer in unterschiedlichen Städten, auch in Mariupol, und das Gefühl des Beistands ist enorm bedeutsam. Die psychologische Wirkung dieser Solidarität sollte man nicht unterschätzen, ebenso wie die Hilfe für Geflüchtete.

Wann und wie sehen Sie Möglichkeiten zum Frieden? Und daran anschließend: Sie haben erwähnt, dass die Russen wohl nicht mit der Entschlossenheit der Ukrainer rechneten. Was aber, wenn sie aufgeben müssen und Russland den Krieg doch gewinnt, welche moralischen und politischen Auswirkungen hätte diese Option des Waffenstillstandes?

Heinemann-Grüder: Das russische Militär kann den Krieg durchaus noch „gewinnen“ im Sinne von weiterer Zerstörung und Vernichtung, weil sie weitaus mehr Ressourcen als die Ukrainer haben und weil sie auch an einen Punkt kommen könnten, an dem sie den Nachschub an Waffen und Munition an die Ukraine unterbinden und die Konvois, die aus NATO-Staaten kommen, bombardieren. Es besteht nach wie vor die Möglichkeit, strategisch bedeutsame Städte der Ukraine von Wasser, Strom und der Lebensmittelversorgung abzuschneiden, wie am Beispiel Mariupols vorgeführt. Das würde weiter zu einer Massenflucht führen, zu „Säuberungen“ in einem Ausmaß, wie es sie seit dem zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Wenn Russland das gesamte Land auch militärisch besiegen würde, dann würde das Land neu durch Russen bevölkert, so wie das die Sowjetunion damals mit annektierten Gebieten auch gemacht hat. Aber ein militärisches Besatzungsregime würde trotzdem auf täglichen Widerstand treffen.

Die zweite Option ist, dass eine territorial reduzierte, eine „Rumpf-Ukraine“, infolge anhaltenden Widerstands übrig bleibt und es eine neue Demarkationslinie innerhalb der Ukraine gibt, die möglicherweise mit internationalen Friedenstruppen befestigt wird. Also eine neue harte Grenze innerhalb der Ukraine zwischen russisch besetzten Gebieten und Gebieten, die nach wie vor unter ukrainischer Kontrolle sind. Es spricht einiges für diese Variante, denn dass die Russen Gebietsteile, die sie erobert haben, wieder in größerem Umfang abgeben, ist unwahrscheinlich. Und die Ukraine ist nicht in der Lage, diese Gebiete allein zurückzuerobern, und die NATO wird ihnen nicht dabei helfen. Bis es zu einem solchen Waffenstillstand kommt, werden beide Seiten sehr abwägen, ob sie wirklich mit den Rücken an der Wand stehen, ob es keine Geländegewinne mehr geben kann und jedes Weiterkämpfen nur zu einer Verschlechterung der Situation führt. Es kann sein, dass die Ukraine an einen Punkt kommt, an dem sie einem russischen Diktat zustimmt, um wenigstens eine Rumpf-Ukraine zu behalten.

Es gibt auch noch die Variante, dass die Russen, weil es so einen festgefahrenen Krieg gibt, militärtechnisch immer weiter eskalieren. Sie haben es schon signalisiert mit dem Angriff auf das Kernkraftwerk, das auch ein Signal an die Europäer war, welche Folgen eine Intervention haben könnte. Es ist möglich, dass die Russen auch mit biochemischen oder vielleicht auch taktischen Atomwaffen den Krieg für sich entscheiden, weil der Einsatz solcher Waffen zur vollständigen Entvölkerung der Ukraine führen würde. Dann können sie diese Gebiete einfach einnehmen, weil dort kein Leben mehr ist. Welche Grenzen es bei der russischen Kriegsführung noch gibt, kann ich nicht beurteilen – Mariupol spricht für eine Taktik der verbrannten Erde. Die russische Führung weiß, dass wenn sie den Krieg verliert, sie auch die politische Herrschaft zuhause verliert. „Moralisch“ und politisch gesehen ist jede Regelung, die die Ergebnisse der russischen Aggression auch nur in Teilen anerkennt, eine Verhöhnung des Völkerrechts. Eine Anerkennung, dass Macht vor Recht geht. Jeder „Friedensschluss“ wird die militärischen Kräfteverhältnisse festschreiben.

Würden Sie eine Vermutung abgeben, welche der Varianten die aktuell wahrscheinlichste ist?

Heinemann-Grüder: Ich gehe davon aus, dass dieser Krieg noch ein paar Monate dauert, auch wenn die RussInnen ihn zum symbolischen Datum „9. Mai“ beenden wollen. Die Einnahme der gesamten Ukraine wäre für die Russen mit erheblichem Aufwand verbunden. Ich halte es daher für wahrscheinlich, dass es zu einem Waffenstillstand über die „Rumpf-Ukraine“ entlang einer neuen Grenze kommt und die Ukraine der Bedingung zustimmt, nicht NATO-Mitglied zu werden. Bei der Entmilitarisierung, die die Russen fordern, weiß ich allerdings nicht, wie sie das durchsetzen wollen. Die internationale Gemeinschaft wird dies nicht anstelle Russlands übernehmen.

Zum Abschluss: Welche Frage beschäftigt Sie bei all diesen Aspekten persönlich am meisten?

Heinemann-Grüder: Mir geht sehr durch den Kopf, wann der Punkt kommt, an dem wir merken, dass es nicht nur der Krieg der Ukraine ist. Wann unterstützt man nicht nur die Ukraine, sondern begreift, dass es ein europäischer Krieg ist? Natürlich haben wir Angst vor Eskalation, aber indem wir denken, wir können Eskalationsvermeidung betreiben, kann es sein, dass wir auf die Eskalation selbst gar nicht vorbereitet sind. Worauf ich hinauswill: Ich bin mir nicht sicher, dass dieser Krieg ein russisch-ukrainischer Krieg bleibt. Er kann schnell internationalisiert werden, zum Beispiel, indem die Russen Waffen- und Munitionslieferungen angreifen. Was würde das bedeuten, wenn Bundeswehrsoldaten dabei beschossen würden? Oder wenn die Russen Radioaktivität als Waffe einsetzen? Würden wir immer noch sagen, das ist nicht unser Problem? Der Krieg muss nicht an der Grenze zur Ukraine, der EU und den NATO-Staaten halt machen. Wir sind überhaupt nicht vorbereitet, dass Russland diese Grenze überschreitet. Ich gehe nicht mehr davon aus, dass Russland eine moralische Barriere hat, diesen Krieg zu internationalisieren. Sie haben Eskalationsdominanz, und nur wenn sie diese nicht mehr haben, werden sie innehalten. Meines Erachtens sind wir immer noch naiv in Bezug auf die mögliche Erweiterung dieses Krieges. Die Glaubwürdigkeit der Abschreckung ist das einzige Mittel, Russland davon abzuhalten, einen dritten Weltkrieg zu beginnen. Nur wenn sie wissen, dass es für sie suizidal wäre, werden sie es lassen. Hier müssen die roten Linien klar gesetzt sein, denn Putins bisherige Einstellung zum Westen ist „die bellen, aber die beißen nicht“.

Das Interview wurde am 23. März 2022 geführt von Wiebke Schuppe, JRF.