Wenn die EU kein Erdgas mehr aus Russland beziehen kann oder will, müsste sie schon über den Sommer ihre Nachfrage deutlich reduzieren. Das zeigt eine neue EWI-Kurzanalyse.

Falls Erdgaslieferungen aus Russland ab dem 1. Mai vollständig eingestellt würden, müsste Europa in den kommenden zwölf Monaten seinen Verbrauch um insgesamt 790 TWh reduzieren. Das geht aus der Kurzanalyse „Auswirkungen ausbleibender Gas-Lieferungen aus Russland auf die Versorgungssicherheit“ des Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) an der Universität zu Köln hervor. Sollen die Speicher zum 30. April 2023 vollständig entleert werden, dann müsste die Nachfrage nach Erdgas um insgesamt 459 TWh reduziert werden.

Aktuell bezieht die EU 30 Prozent ihrer Erdgasimporte aus Russland (Stand Q1 2022), Deutschland 35 Prozent (Stand 02.05.2022). Neben ihrer eigenen Produktion und den Importen aus Russland verfügt die EU über vier wesentliche Importkorridore für Erdgas: Auch Aserbaidschan, Algerien, Libyen sowie Norwegen beliefern die EU mit Hilfe von Pipelines. Zusätzlich kann flüssiges Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) über den globalen Gasmarkt importiert werden, sofern die entsprechende Infrastruktur zur Verfügung steht.

Speicher aktuell zu 33 Prozent gefüllt

Die Speicher der EU sind – aggregiert betrachtet – derzeit zu 33 Prozent gefüllt (Stand: 30.04.2022). Um die Versorgungssicherheit auch im Winter 2022/2023 zu gewährleisten, müssen die Speicher auf ein hohes Niveau befüllt werden. Für die Versorgungssicherheit sind außerdem weitere Faktoren von Bedeutung:

Szenario: Keine russischen Lieferungen ab 1. Mai 2022, mit einer EU-Vorgabe von 80 % Speicherfüllstand für den 1. November 2022

  • Die Gas-Nachfrage wird maßgeblich durch die Menge der bereitgestellten Wärme beeinflusst. Sollte der kommende Winter in Europa sehr kalt werden, könnte die Nachfrage im Winter um bis zu 28 Prozent höher als im Referenzszenario liegen (ENTSOG, 2021). Bei der Bewertung der Ergebnisse ist diese Unsicherheit zu beachten.
  • Im Stromsektor kann die Nachfrage nach Gas nur noch begrenzt reduziert werden. Denn schon jetzt laufen wegen der hohen Gaspreise oft Kohle- statt Gaskraftwerke („Fuel Switch“). Die Gas-Nachfrage könnte allerdings weiter verringert werden, indem die Strom-Nachfrage selbst verringert wird.
  • Die Erhöhung von LNG-Importen und damit des Gas-Angebots ist durch die verfügbare Infrastruktur begrenzt. Aktuell ist die Verflüssigungskapazität der Exporteure nahezu vollständig ausgelastet. Dazu wird ein großer Teil der globalen LNG-Lieferungen über Langfristverträg­e abgewickelt, was die Möglichkeit kurzfristiger Exporte in die EU einschränkt.
  • Aktuell liefern die Länder, die nicht über russische Pipelines mit Europa verbunden sind, bereits nah an ihrer maximalen Fördergrenze und können kurzfristig nur geringe Mengen zusätzlich in den Markt geben.

Dilemma Sommer- vs. Winter-Nachfrage

„In der Summe bedeutet das, dass bei einem kompletten Wegfall der Gaslieferungen aus Russland auch im Optimalfall, also bei maximalen LNG-Importen und maximalen Zuflüssen aus nicht-russischen Pipelines, die verfügbaren Mengen im Sommer voraussichtlich nicht ausreichen dürften, um sowohl die Speicher zu füllen als auch die verbleibende Nachfrage zu decken“, sagt Dr. Eren Çam, Manager am EWI.

„Dadurch stünde die Politik vor dem Dilemma, dass sie zwischen der Bedienung der Sommer-Nachfrage (vor allem Industrie, Energiewirtschaft und Warmwasser) und einer Absicherung der Winter-Nachfrage (zusätzliche Nachfrage vor allem für Raumwärme) abwägen muss. Eine Reduktion der Gas-Nachfrage über den Sommer sollte deshalb umgehend eingeleitet und die Winter-Nachfrage vorausschauend reduziert werden, wenn die Versorgungssicherheit durchgehend gewährleistet werden soll.“

Höhere Preise durch Füllstandsvorgabe?

Hinzu kommt, dass nach dem neuen Gasspeichergesetz deutsche Speicher am 1. November 2022 mindestens zu 90 Prozent gefüllt sein müssen; die EU-Kommission schlägt für europäische Speicher einen Mindestwert von 80 Prozent zum 1. November vor. Durch solche Vorgaben würde ein Teil der Versorgungslücke in den Sommer vorgezogen und die Lücke im Winter entsprechend verringert. Eine europäische Füllstandsvorgabe von 80 Prozent zum 1. November 2022 würde zu einer Lücke von 302 TWh (18 Prozent der Sommernachfrage) im Sommer führen, während die Lücke im Winter auf 488 TWh (17 Prozent der Winternachfrage) sinken würde. Sollten die Speicher vollständig entleert werden, wäre eine Reduktion um 157 TWh (5 Prozent der Winternachfrage) notwendig.

Ein Erreichen dieser Füllstände, um die Winter-Nachfrage abzusichern, stünde in Mengenkonkurrenz mit der restlichen Sommer-Nachfrage. Im Bewusstsein dieser Zielsetzung könnte es dazu kommen, dass andere Marktakteure die benötigten Mengen nur für Preise weit über dem üblichen Marktpreis bereitstellen. „Die angestrebte Höhe der Vorgaben für die Speicherfüllstände sollte daher im Lichte der weiteren geopolitischen Entwicklungen laufend überprüft werden“, sagt Çam.

Rein bilanzielle Betrachtung

In dem Szenario haben die Fachleute Gasflüsse in der Europäischen Union (EU) und Großbritannien bilanziell betrachtet; Infrastrukturengpässe sind nicht berücksichtigt. Auch die iberische Halbinsel wird nicht betrachtet, da sie nur geringfügig an das europäische Gasnetz angeschlossen ist. Die angenommenen Nachfragemengen stammen aus den Referenz-Szenarien der ENTSOG Supply Outlooks.

weitere Informationen auf Seiten des JRF-Instituts EWI.