Viele bauliche Infrastrukturen haben in Deutschland inzwischen ein Alter erreicht, das einen erheblichen Sanierungs- und Erneuerungsbedarf mit sich bringt. Abwasserkanälen und -leitungen kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, da diese laut einer Schätzung des IKT mit einem Wiederbeschaffungswert von 630 Milliarden EUR den größten Anteil am unterirdischen Infrastrukturvermögen in Deutschland aufweisen. Laut Fachzeitschrift EUWID werden 20% des öffentlichen Kanalnetzes in NRW als erneuerungs- und sanierungsbedürftig angesehen.

Seit 1995 gilt in Nordrhein-Westfalen für die öffentliche Kanalisation die Selbstüberwachungsverordnung. Demnach müssen die Betreiber von Kanalisationen ihre Netze und zugehörigen Bauwerke seit fast 30 Jahren in regelmäßigen Intervallen inspizieren und bei Bedarf sanieren bzw. erneuern. So wurden nach Ersterfassung der Kanäle i.d.R. bereits mehrere Wiederholungsinspektionen durchgeführt.

Vor diesem Hintergrund stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Zustandsveränderungen in diesem Zeitraum tatsächlich eingetreten sind und wie sich bestimmte Schadensbilder und Auffälligkeiten ggf. verändert haben. Denn bisher basieren die Investitionsentscheidungen im Bereich der Instandhaltung der öffentlichen Abwasseranlage der Städte und Gemeinden auf Momentaufnahmen einer Inspektion.

Hier setzt nun das im Mai 2022 gestartete Forschungsvorhaben „ZeMuS – Zustandsentwicklung von Abwasserkanälen, bautechnische Modelle und Strategien“ an. Ziel ist es, einen Teil dieses international einzigartigen Datenschatzes aus NRW in Form von Inspektionsdaten und Befahrungsvideos zu heben und zu analysieren.

Die Kenntnis über die zeitliche Entwicklung sowie die Schadensursachen und -mechanismen bestimmter Zustände und Auffälligkeiten ist für die mittel- bis langfristige Auswahl von Inspektions- und Sanierungsmaßnahmen von immenser Bedeutung. So belegen beispielhafte Untersuchungen, dass mit Zustandsentwicklungen und Zustandsursachen zu rechnen ist, die deutlich von den heute üblichen „Alterungsmodellen“ abweichen können (siehe Abbildung). Die bisherigen Beschreibungsansätze zur Zustandsentwicklung sind oftmals rein statistisch und mit großen Unsicherheiten behaftet. Denn vielfach werden beispielsweise gar nicht einzelne Rohrzustände, also z.B. Schadensbilder, betrachtet, sondern Zustandsklassen nach Norm für ganze Haltungen als empirischer Zustandsparameter herangezogen. Eine bautechnische, physikalische Analyse des Rohr-Boden-Systems und seiner Zustandsentwicklung ist damit nicht Gegenstand dieser Modelle. Darüber hinaus finden derzeit auch veränderte Belastungen infolge des Klimawandels (z.B. höhere hydraulische Beanspruchungen bei Starkregen, Beeinflussung des Rohr-Boden-Systems aufgrund veränderter Grundwasserverhältnisse, Korrosion und Geruchsentwicklung bei Trockenheit) und infolge veränderter Verkehrsbelastungen (z.B. Zunahme Schwerlastverkehr) bei der Beschreibung der Zustandsentwicklung derzeit keine Berücksichtigung.

Beispiel: Schadensbild „Riss“ 2006 (links) und 2015 (rechts), keine Veränderung

Das Projekt ZeMuS wird von insgesamt 11 kommunalen Abwasserbetrieben unter der Federführung von GELSENKANAL, der Stadtentwässerung in Gelsenkirchen, vorangetrieben. Gefördert wird das Projekt durch das Land NRW, organisiert und technisch umgesetzt durch das IKT. Neben der systematischen Auswertung der Inspektionsdaten und Befahrungsvideos hinsichtlich der Zustandsentwicklung werden im Projekt aber auch stehts die übergeordneten Ziele im Blick gehalten. Dies betrifft in erster Linie die Frage nach der tatsächlichen Dauerhaftigkeit von Abwasserkanälen und in diesem Zusammenhang der Absicherung von bisherigen Annahmen zur Restnutzungsdauer der Bauteile und schließlich auch ein Hinterfragen der bisherigen Investitions- und Abschreibungsstrategien. Zudem sollen bereits im Vorfeld einer Inspektion gezielt kritische Bereiche identifiziert werden, bei denen eine schnellere Zustandsentwicklung zu erwarten ist. Weiterhin könnten ggf. unkritische Bereiche identifiziert werden, in denen auch eine Verlängerung der Inspektionsintervalle möglich ist. Auf diese Weise wäre erstmals eine orts- bzw. schadensbezogene Staffelung der Inspektionsintensitäten im Rahmen der Drittbefahrung und weiterer Wiederholungsbefahrungen möglich. Denn angesichts knapper Budgets bei den Städten und Gemeinden ist ein gezielter und effizienter Einsatz finanzieller Mittel mehr denn je gefragt.

Es zeigt sich, dass der in NRW aktuell vorliegende Datenschatz von Inspektionsdaten und Befahrungsvideos aus verschiedenen Epochen international einzigartig ist. Aus diesem Grund ist das Forschungsvorhaben bereits vor Projektbeginn auch auf internationaler Ebene auf großes Interesse gestoßen. Während der Projektlaufzeit wird daher auch ein enger fachlicher Austausch mit Wissenschaftlern aus anderen Ländern angestrebt. So sollen beispielsweise Erkenntnisse im EURO-SAM, einem europäischen Netzwerk der Wissenschaftler zum Thema Asset Management für Bauwerke der Kanalisation, gespiegelt werden und es soll eine enge Verknüpfung mit dem laufenden EU-Forschungsvorhaben „Co-UDlabs – Collobarative Urban Drainage research labs“ (https://co-udlabs.eu/) erfolgen, an dem mehrere europäische Forschungseinrichtungen beteiligt sind.

Weitere Infos auf Seiten des JRF-Instituts IKT.