Grüner Wasserstoff erscheint heute oft wie eine Wunderwaffe gegen Energieknappheit und klimaschädliche Emissionen. So gut wie niemand hat Einwände dagegen, ihn in der energieintensiven Industrie zu nutzen. Nach der Auswertung zweier Akzeptanzstudien regt das Wuppertal Institut in einem „In Brief“ daher an, die offenen Fragen zum Thema grüner Wasserstoff in der politischen Kommunikation klarer zu benennen. Denn: Nicht alle Branchen können mittelfristig bereits mit grünem Wasserstoff versorgt werden. Und auch Nachhaltigkeitsbedenken und der Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur könnten noch an den guten Akzeptanzwerten für grünen Wasserstoff rütteln, wenn nicht besser aufgeklärt wird.
Wuppertal, 7. Dezember 2023: Die Zustimmung zum Einsatz von grünem Wasserstoff ist groß. Sowohl die Öffentlichkeit als auch Expert*innen aus Gewerkschaften, Umweltverbänden, Unternehmen und Industrieverbänden befürworten die Nutzung des klimafreundlichen Gases in industriellen Prozessen. 85 Prozent der Öffentlichkeit sehen diese Nutzung positiv, nur 3,4 Prozent deutlich kritisch. Auch die befragten Industrieexpert*innen sind sich einig: Grüner Wasserstoff ist ein zentraler Baustein der Transformation zur Klimaneutralität in der Industrie.
Das ist das Ergebnis von Befragungen des Wuppertal Instituts im Rahmen des Projekts Protanz.NRW. An dem Vorhaben sind auch die Bergische Universität Wuppertal, die Hochschule Bochum, die Ruhr Universität Bochum und die RWTH Aachen beteiligt.
„Nicht für jede Branche wird grüner Wasserstoff zur Verfügung stehen“
Für die energieintensive Industrie in Nordrhein-Westfalen ist eine zuverlässige Energieversorgung entscheidend – hierzu kann Wasserstoff beitragen. Hinzu kommt die Möglichkeit, Wasserstoff in neue Produktionsprozesse wie die Direktreduktion von Eisen in der Stahlindustrie einzubinden. Anders ausgedrückt: Ohne grünen Wasserstoff ist Klimaneutralität in vielen Branchen bis 2045 nicht möglich.
Wasserstoff hat ein enormes Transformationspotenzial. Aber eine wissenschaftliche Betrachtung zeigt auch: „Die in Deutschland verfügbaren Kapazitäten von grünem Wasserstoff sind mittelfristig noch begrenzt. Nicht für jede Branche wird grüner Wasserstoff daher rechtzeitig zur Verfügung stehen. Ohne massiven Ausbau der erneuerbaren Energien und der Infrastruktur für Wasserstoff-Transport und -Speicherung sowie ohne Importe wird es nicht gehen“, sagt Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick, Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts.
„Es darf mit Blick auf die grundsätzlich breite Akzeptanz von Wasserstoff daher nicht der Eindruck entstehen, dass der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft ein Selbstgänger ist, sondern klarer Rahmenbedingungen bedarf“, ergänzt Katja Witte, kommissarische Leiterin der Abteilung Zukünftige Energie- und Industriesysteme am Wuppertal Institut.
Das Wuppertal Institut schlägt daher ein abgestimmtes politisches Handeln vor, besonders in folgenden Punkten:
- Um den begrenzt verfügbaren grünen Wasserstoff zielgerichtet einzusetzen, sollten Branchen priorisiert werden, die ihre Produktion nicht auf einem anderen Weg sinnvoll klimaneutral gestalten können – zum Beispiel Stahl und Chemie.
- Sektoren wie Mobilität und Gebäude sollten durch ökonomische und politische Anreize dazu ermutigt werden, alternative Ansätze zum Wasserstoff wie etwa Mobilität und Gebäude verfolgen zu können.
- Um Akzeptanzprobleme zu vermeiden, sollte deutlicher benannt werden, dass sowohl die heimische Bereitstellung als auch der Import von grünem Wasserstoff mit offenen Fragen verbunden sind. Diese Fragen betreffen beispielsweise die Geschwindigkeit des weiteren Ausbaus der erneuerbaren Energien in Deutschland, die Nachhaltigkeit der Transportwege und Aspekte der sozialen Gerechtigkeit, wie etwa den Umgang mit der begrenzten Ressource Wasser in den Produktionsländern (sowie mit den Lieferketten verbundene geopolitische Risiken).
- Heimische Erzeugung und Import von Wasserstoff sollten daher an strenge soziale und ökologische Nachhaltigkeitskriterien gekoppelt werden.
- Für die Einführungsphase von grünem Wasserstoff werden pragmatische Regeln benötigt.
- 47 Prozent der Bevölkerung in NRW geben an, noch nichts über grünen Wasserstoff zu wissen. Mögliche negative Reaktionen seitens der Bevölkerung werden vor allem bei lokalen Infrastrukturprojekten rund um grünen Wasserstoff erwartet. Hier gilt es frühzeitig zu informieren und die lokale Bevölkerung mit einzubeziehen. Entscheidend wird sein, den Mehrwert des Einsatzes von Wasserstoff kommunikativ gut vermitteln zu können und gleichwohl auf die Risiken transparent hinzuweisen.
Sowohl das Wuppertal Institut als auch die befragten Expert*innen regen beim Thema grüner Wasserstoff im aktuellen „In Brief“ an, in die Industrie und in die Öffentlichkeit hinein offen und realitätsnah zu kommunizieren. So würden keine falschen Hoffnungen geweckt und bestimmte Industriebranchen können davon abgehalten werden, auf dem Weg in die Nachhaltigkeitstransformation falsche Entscheidungen zu treffen. Nur so gelingt es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Akzeptanzwerte von Wasserstoff stabil hoch zu halten.
In der Reihe „In Brief“ publiziert das Wuppertal Institut Positionspapiere zu aktuellen Herausforderungen der Nachhaltigkeitstransformation. Knapp, pointiert und angereichert mit Empfehlungen zu weiteren Publikationen nehmen die Autor*innen Stellung zu zentralen Forschungsthemen des Instituts.
Weitere Informationen