Im Wettlauf gegen die Zeit muss die Europäische Union schnell handeln, um die grüne Transformation erfolgreich voranzubringen. Dabei geht es nicht nur darum, im globalen Wettbewerb um grüne Technologien nicht den Anschluss zu verlieren, sondern auch um die Zukunftsfähigkeit der europäischen Wirtschaft insgesamt und den Kampf gegen den Klimawandel. Im Hinblick auf die bevorstehenden EU-Wahlen kann die Dringlichkeit dieser doppelten Herausforderung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit der neuen proeuropäischen polnischen Regierung könnte das Weimarer Dreieck – ein trilaterales Forum der Regierungen von Polen, Frankreich und Deutschland – eine ideale Plattform sein, um eine neue und ambitionierte industriepolitische Führungsrolle in Europa zu übernehmen.

Genau das fehlt Europa in diesen politisch turbulenten Zeiten: entschlossene Führung. Denn sowohl das Europäische Parlament als auch die EU-Kommission sind absehbar mehr mit den Wahlen als mit Sachfragen beschäftigt – und anschließend damit, sich neu zu sortieren.

Auch von der Ratspräsidentschaft Ungarns in der zweiten Hälfte dieses Jahres ist keine industriepolitische Initiative zu erwarten: Trotz der jüngsten Zugeständnisse ist die Haltung der ungarischen Regierung zu demokratischen Werten und Klimaschutzmaßnahmen nach wie vor bedenklich. Mit substanziellen Fortschritten ist deshalb nicht zu rechnen. Zudem deuten Umfragen in mehreren EU-Ländern auf einen bedenklichen Anstieg der Unterstützung für rechtsextreme Parteien hin, die Initiativen wie dem europäischen Green Deal und einer ambitionierten Klimapolitik größtenteils skeptisch gegenüberstehen. Der mögliche Erfolg dieser Parteien bei den anstehenden Wahlen birgt eine doppelte Gefahr: Die klimapolitischen Ziele der EU könnten aufgeweicht werden – das wäre eine schwere Hypothek beim globalen Wettrennen um die Führungsrolle bei den Industrien der Zukunft.

Eine gemeinsame Initiative könnte Deutschland, Frankreich und Polen auch innenpolitisch helfen

In diesem schwierigen Umfeld bietet die Zusammenarbeit der drei Regierungen einen dringend benötigten Gegenpol. Das Weimarer Dreieck – ein regionales Bündnis aus Frankreich, Deutschland und Polen, das 1991 in Weimar gegründet wurde – hat in der Vergangenheit als Forum gedient, um europäische Themen voranzubringen, in letzter Zeit aber keine große Rolle gespielt. Das könnte sich nun endlich ändern: Zum ersten Mal seit fast einem Jahrzehnt haben alle drei Länder wieder eindeutig proeuropäische Regierungen. Und die drei Länder stehen vor innenpolitischen Herausforderungen, die durch eine Initiative auf EU-Ebene überwunden werden könnten.

Mit den jüngst durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts verschärften fiskalischen Zwängen scheinen der Ampelkoalition die innenpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten auszugehen. Eine Fokussierung auf die EU-Ebene könnte für Bundeskanzler Scholz und insbesondere Robert Habeck, Minister für Wirtschaft und Klimaschutz, ein geeigneter Weg sein, ihre politische Agenda trotz des engen Korsetts der Schuldenbremse umzusetzen.

Frankreich ist, aufgrund seiner ehrgeizigen Industriestrategie und seines Engagements für den Green Deal, potenziell ein entscheidender Katalysator für den Fortschritt innerhalb des Dreiecks. Aufbauend auf seiner historischen Tradition staatlicher Lenkung der industriellen Entwicklung verfolgt das Land eine Politik der grünen Re-Industrialisierung. Dass Präsident Emmanuel Macron die Wiederherstellung der industriellen Souveränität betont, unterstreicht die Bedeutung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit in den Schlüsselsektoren. Doch in der aktuellen politischen Landschaft – die geprägt ist durch eine Minderheitsregierung in der Nationalversammlung, einen möglichen Wahlsieg des rechtspopulistischen Rassemblement National bei den Europawahlen sowie durch die Kürzung öffentlicher Ausgaben – wird es für Frankreich immer schwieriger, im Alleingang grüne Industriepolitik voranzubringen.

Zuerst aber müssen Frankreich und Deutschland ihre jüngsten Spannungen überwinden. Donald Tusk könnte genau der Richtige sein, um die deutsch-französischen Differenzen zu entschärfen und – auf der Grundlage von Frankreichs Engagement für eine grüne Re-Industrialisierung, Deutschlands Führungsrolle in der Wirtschafts- und Klimapolitik sowie seiner eigenen Stärke bei der Gestaltung europäischer Politik – den Grundstein für eine solche Koalition zu legen.

Schon bevor er Präsident des Europäischen Rates wurde, hat Donald Tusk bewiesen, dass er die politische Debatte in der Europäischen Union beeinflussen kann: Er war es, der vor einem Jahrzehnt den Begriff „Energieunion“ prägte und so einen Impuls zur besseren Integration der Energiesicherheit in die EU-Politik setzte. Vor allem schlug er 2014 den gemeinsamen Kauf von Gas vor, um die Position der EU gegenüber Russland zu stärken: eine gemeinsame europäische Initiative, die damals abgelehnt wurde, um später, mitten in der von Russland verursachten Energiekrise, wiederbelebt zu werden. Ein halbes Jahr nach den Wahlen braucht die neue polnische Regierung eine zukunftsorientierte Agenda, denn der Unmut über die Vorgängerregierung, der Tusk an die Macht brachte, wird zunehmend durch Fragen nach der Zukunft Polens und seiner Rolle im europäischen Projekt ersetzt. Eine Vision, die Klimaziele mit der Zusammenarbeit auf EU-Ebene und einer Konzentration auf industrielle Wettbewerbsfähigkeit verbindet, könnte ein wichtiger Teil der Antwort sein. Nicht zuletzt wird Polen in der ersten Jahreshälfte 2025 die EU-Präsidentschaft von Ungarn übernehmen – eine einzigartige Chance, 2024 entwickelte politische Initiativen umzusetzen.

Aktive Industriepolitik ist von zentraler Bedeutung für den europäischen Green Deal – und die europäische Demokratie insgesamt

Wir erleben eine weltweite Renaissance der Industriepolitik. Die EU konkurriert mit den Vereinigten Staaten und vor allem mit China um die Vorherrschaft in den aufstrebenden grünen Industrien. Gleichzeitig hat der massive russische Angriffskrieg gegen die Ukraine einen Schock für die europäische Industrie ausgelöst, was die Notwendigkeit von Industriepolitik zur Wahrung von Sicherheit und Unabhängigkeit verdeutlicht. In dieser neuen Ära industrieller Geopolitik kann die EU nur wettbewerbsfähig bleiben, wenn sie sich auf ihr starkes Bündnissystem und den Binnenmarkt stützt. Industriepolitik und staatliche Subventionen bergen jedoch die Gefahr, dass eine Kluft entsteht zwischen wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten, die der heimischen Industrie großzügige staatliche Beihilfen gewähren können, und Mitgliedstaaten mit geringeren fiskalischen Spielräumen.

Darüber hinaus ist Industriepolitik von entscheidender Bedeutung für den globalen Wettlauf um grüne Technologien, dessen derzeitige Investitionsstrukturen die EU nicht gerade begünstigen. Dieser Trend muss umgekehrt werden, um die industrielle Basis der EU zu erneuern und eine dynamische grüne Entwicklung zu ermöglichen. Strategische Politiken und Investitionen in nachhaltige Technologien sind entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit und die langfristige Nachhaltigkeit der EU.

Die Weichen für nachhaltige, geeinte und integrative Entwicklung stellen: Grundsätze für eine erfolgreiche EU-Industriepolitik

Der Erfolg der Zusammenarbeit im Weimarer Dreieck hängt nicht nur vom politischen Willen der drei Regierungen ab, sondern auch von den Grundsätzen, die sie ihrer Industriepolitik zugrunde legen. Wir schlagen dafür drei Prinzipien vor:

  • Erstens: Die europäische Industriepolitik muss transformativ sein. Jede industrielle Initiative muss mit den ehrgeizigen Klimazielen Europas in Einklang stehen. Das bedeutet: Auf technischer Ebene müssen Innovationen im Bereich grüner Technologien und Energieeffizienz gefördert werden, während auf gesellschaftlicher Ebene sozialer Ausgleich und Fairness gegenüber den betroffenen Menschen und Gemeinden im Fokus stehen sollten. Die Unterstützung energieintensiver Industrien kann nicht auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden, aber in einer Übergangszeit erforderlich sein. Günstige Strompreise – durch Subventionen und andere Mechanismen – sind notwendig, um Anreize für eine umfassende Elektrifizierung von Industrieprozessen zu setzen. Solche Subventionen sollten jedoch direkt an die Investitionen in den Ausbau der kohlenstoffarmen Stromerzeugung gekoppelt sein und schrittweise abgebaut werden, sobald wir uns einem sauberen Energiesystem annähern.
  • Zweitens sollte die EU-Industriepolitik die europäische Gemeinschaft, die Wettbewerbsfähigkeit und den Binnenmarkt stärken. Industriepolitik sollte kein Nullsummenspiel zwischen den Mitgliedstaaten sein – vielmehr sollte sie die Zusammenarbeit zwischen den Ländern fördern, ihre individuellen Stärken betonen und gleiche Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt schaffen. Eine Möglichkeit zur Verwirklichung dieses Grundsatzes wäre die Nutzung der „Strategic Technologies for Europe Platform“ (STEP) als Gegengewicht zu den staatlichen Beihilfen, die von den finanzkräftigeren Mitgliedstaaten gezahlt werden. Dazu wäre STEP allerdings auf erhebliche neue Mittel angewiesen. Um diese Mittel zu mobilisieren, könnten die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, jeden Euro, den sie für staatliche Beihilfen im eigenen Land ausgeben, durch einen obligatorischen Beitrag zur Plattform zu ergänzen. Eine weitere Möglichkeit wäre ein Mechanismus ähnlich dem EU-Wiederaufbaufonds: die gemeinsame Beschaffung von Kapital auf europäischer Ebene, das dann durch künftige Instrumente – etwa aus den künftigen Einnahmen aus dem EU-Emissionshandelssystem nach dem Ende der kostenlosen Zuteilung im Jahr 2030 – zurückgezahlt wird.
  • Und drittens sollte die EU-Industriepolitik globale Kooperation statt Rivalität anstreben. Wir brauchen zwar einen Technologiewettlauf gegen den Klimawandel, aber es muss ein Wettlauf im Geiste der Zusammenarbeit sein, bei dem sich alle Teilnehmer gegenseitig zu Höchstleistungen anspornen. Ein von industriepolitischem Nationalismus angeheizter Wettlauf im Sinne geopolitischer Rivalität kann uns letztendlich den Sieg gegen den Klimawandel kosten, wenn es nicht gelingt, Innovation und effiziente Technologien zu fördern, sondern stattdessen ein ruinöser Subventionswettlauf und Handelsschranken im Vordergrund stehen.
    Die Industriestrategie der EU sollte eine offene, regelbasierte Zusammenarbeit mit globalen Partnern fördern. Dazu gehört auch die Förderung von Partnerschaften mit Entwicklungsländern, die eine für beide Seiten gewinnbringende Zusammenarbeit in den Bereichen Ressourcen, Technologietransfer und Wissensaustausch beinhalten und gleichzeitig sicherstellen sollte, dass sie nicht ins Kreuzfeuer des geopolitischen Wettbewerbs geraten. Das Ergebnis wird eine Weltwirtschaft mit gleichmäßiger verteilten und sauberen Industriekapazitäten sein – was die wirtschaftliche Sicherheit Europas erhöhen würde, aber auch fairer und realistischer ist als der Versuch, durch Abschottung eine vollständige industrielle Resilienz zu erreichen.

Aus einem verlorenen Jahr könnte ein verschwendetes Jahrzehnt werden

Auch wenn die Zusammenarbeit zwischen Polen, Frankreich und Deutschland nicht frei von Problemen ist, so ist sie doch ein wichtiger Hoffnungsschimmer für die EU-Industriepolitik inmitten des politischen Gegenwinds des Jahres 2024. Wenn die drei Regierungen dieses Potenzial erkennen und die bestehenden Herausforderungen konsequent angehen, sind bedeutende Fortschritte möglich, die den Weg ebnen können für eine nachhaltigere und wohlhabendere europäische Zukunft. Angesichts der bevorstehenden Wahlen in Deutschland und Frankreich, könnte dies die letzte Gelegenheit sein, die europäische Industrielandschaft zum Besseren zu wenden.

 

Über die Autoren
Dr. Lukas Hermwille ist Co-Leiter des Forschungsbereichs Transformative Industriepolitik am Wuppertal Institut.
Dr. Joseph Dellatte ist Resident Fellow für Klima, Energie und Umwelt am Institut Montaigne, einer führenden französischen Denkfabrik für öffentliche Politik.
Aleksander Śniegocki ist Chief Executive Officer des Instytut Reform, einer polnischen Denkfabrik für Wirtschafts-, Energie- und Klimapolitik.

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Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH
Das Wuppertal Institut ist ein umsetzungsorientiertes Forschungsinstitut für Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung. Kernauftrag des 1991 gegründeten Wuppertal Instituts ist es, auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse einen Beitrag dafür zu leisten, die globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf Transformationspfaden in eine klimagerechte und ressourcenschonende Zukunft. Dafür entwickeln die Wissenschaftler*innen System-, Ziel- und Transformationswissen und erforschen praxisnahe Leitbilder und Strategien für die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – auf lokaler Ebene, in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt.
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