Die derzeit in Kolumbien tagende 16. Konferenz der Vertragsparteien (COP) des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt (UNCBD) und die im kommenden Monat bevorstehende COP des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) werfen ein Schlaglicht auf die Bedeutung indigener Wissenssysteme (Indigenous Knowledge Systems, IKS) bei der Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft.
IKS sind ein Fundus an Wissen, Praktiken und Glaubensvorstellungen. Über Generationen weitervermittelt, sind sie auch heute noch in vielen Teilen der Welt lebendig und ein unverzichtbarer Kanal, über den die Vergangenheit die Zukunft prägen kann. Auch das UNCBD hat dies erkannt und bekräftigt die Bedeutung traditionellen Wissens (Art. 8j) für die Bewahrung der Biodiversität, während der Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal die entscheidende Rolle von IKS in der Biodiversität hervorhebt. Die kritische Rolle der Integration von IKS in Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel wird auch im Pariser Klimaabkommen bestätigt.IKS finden vor allem im Globalen Süden Anwendung, meist in ländlichen und landabhängigen Gemeinschaften am Rande des modernen, städtisch orientierten Lebens. Dies schränkt ihre Relevanz in der westlichen wissenschaftsbasierten Weltordnung ein. Tatsächlich können sie einen weitaus größeren Beitrag leisten, Antworten auf die komplexen Herausforderungen unserer Zeit zu finden.
Eine Brücke zwischen dem Erbe der Vergangenheit und der Zukunft
IKS in Nachhaltigkeitsinitiativen einzubinden erfreut sich wachsender Beliebtheit. So verweisen immer mehr Studien und Berichte auf die Bedeutung von IKS für ein effektives Management natürlicher Ressourcen. Außerdem wird der Beitrag der Natur zu einer nachhaltigeren Gesundheit zunehmend anerkannt. In Deutschland fordert eine aktuelle Publikation des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) zum Thema Gesundheit ein stärkeres Bewusstsein für die globalen Herausforderungen an den Schnittstellen zwischen Umwelt- und Klimaveränderungen, Biodiversität und menschlicher Gesundheit
Die spirituellen Vorstellungen, die IKS oft zugrunde liegen, können eine verantwortungsvollere Perspektive auf eine harmonische Koexistenz mit der Umwelt eröffnen als die Gedankenwelt der Offenbarungsreligionen, die auf einer Beherrschung der Natur durch den Menschen beruht. Die Relevanz von IKS für Umweltschutz, Gesundheit und Biodiversität wird also bereits anerkannt. Doch darüber hinaus gibt es weitere Bereiche, zu denen IKS wichtige Beiträge leisten können, etwa Gendergerechtigkeit, Fragen der Regierungsführung und der Ökonomie. Die Einbindung dieser Perspektiven kann zu einer größeren Gerechtigkeit innerhalb von Gesellschaften beitragen, was einen entscheidenden Schritt in Richtung der Dekolonisation von Wissensproduktion darstellen würde.
Interaktion zwischen Wissenssystemen fördern
IKS werden zwar zunehmend gewürdigt, doch die Herausforderung liegt in ihrer Anerkennung und ihrem Mainstreaming. Im 20. Jahrhundert wurden IKS zunehmend zurückgedrängt, während Modernisierungsprojekte an Fahrt aufnahmen. Expansionistische Politiken von der Kolonialisierung bis zur heutigen Zeit haben eine klare Trennung zwischen dem sogenannten „modernen“, „westlichen“, „universellen“ Wissen und dem „nicht westlichen“ Wissen geschaffen. Zudem sind IKS spezifisch für lokale Kontexte, d. h. sie bilden die Grundlage für die Entwicklung einer ethnischen Gruppe in ihrem natürlichen historischen Zusammenhang. Obwohl bewusste Entlehnungen aus anderen Kulturen Wissenssysteme seit jeher anreichern, wurde die Entwicklung der Wissenssysteme (ehemals) kolonisierter Völker unterbrochen und lange vernachlässigt. In der Folge besteht heute ein ungleicher Austausch. Westlicher Wissenschaft wird ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit zugestanden und sie prägt das dominante Wissenssystem. Daher können IKS von ihr vereinnahmt werden, insbesondere da die formalen Bildungssysteme indigenen Wissens- und Lernmethoden noch keinen Raum geben. Das intellektuelle Erbe der meist marginalisierten indigenen Völker wird dadurch gefährdet.
Die Wechselwirkung zwischen den beiden Wissenssystemen ist folglich von großer Bedeutung. Erreichen lässt sie sich durch Respekt, Neugier, Offenheit und Dialog, um die kulturellen Stereotype und Hierarchien aufzubrechen, bei denen westliche Wissenschaft an der Spitze steht und die 6.900 dokumentierten IKS irgendwo am unteren Ende. Initiativen wie „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“ räumen der Umwelt und dem harmonischen Zusammenleben der Menschen mit der Natur obersten Rang ein. Dieses Prinzip entspricht der Maxime „Vorsorge ist besser als Nachsorge“, einem Eckpfeiler der Gesundheitssysteme vieler indigener Gemeinschaften. Auch in anderen Bereichen laufen zahlreiche Versuche, die Erkenntnisse und Anwendungen der konventionellen Medizin und indigener Praktiken zu integrieren.
Diese Beispiele zeigen die beidseitigen Vorteile, die sich auf viele weitere Disziplinen jenseits der Ökologie und Medizin ausweiten lassen. Kein Wissenssystem ist universal; jedes ist tief in einem speziellen kulturellen Kontext verwurzelt. Dieses Verständnis und der Brückenschlag zwischen den Systemen sind ausschlaggebend für die Schaffung einer gerechten Wissenskooperation um breites Wissen für alle zugänglich zu machen.
Über die AutorInnen
Segueda, Wendpanga Eric und Banarjee, Aparajita