In Deutschland diskutieren wir momentan, wie viele Einschränkungen zum Schutz der Unversehrtheit des Einzelnen vor der Pandemie notwendig und für eine offene Gesellschaft verträglich sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich eindeutig auf die Seite der Demokratie gestellt, indem es ein Protestverbot aufgehoben hat. Doch was passiert in Staaten, deren Exekutive ungehemmt ihre Macht ausdehnt und demokratische Freiheiten einschränkt? Außen- und Entwicklungspolitik müssen diese Gefahr – besonders in der Krise – genau beobachten. Denn die Covid-19 Pandemie ist ein Brandbeschleuniger für Autokratisierungstrends. Weltweit haben Regierungen im Zuge ihrer Covid-19-Politik demokratische Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit eingeschränkt, die staatliche Überwachung von Bürger*innen verstärkt und ihre eigene Macht ausgeweitet. Jörg Lau bezeichnet die Pandemie in der ZEIT als eine Gelegenheit für „Tyrannen und solche, die es werden wollen“.
Schon 2019 erlebte die Menschheit erstmals seit 2001 mehr Autokratisierungs- als Demokratisierungsprozesse. In Ungarn, Indien, Brasilien oder der Türkei nutzen nun Autokraten die Pandemie, um die parlamentarische Kontrolle zu schwächen und die Freiheit von Bürger*innen massiv zu beschneiden; in Ruanda, den Philippinen, oder Uganda steigt die Repression gegen Oppositionelle. Demgegenüber sollten Demokratien per Definition die Langzeiteffekte pandemiebedingter Freiheitseinschränkungen besser begrenzen können. Doch ist nicht garantiert, dass sie vor Autokraten verschont bleiben. Schon die wirtschaftliche Talfahrt während der Finanzkrise 2008 hatte weitreichende politische Konsequenzen. Etliche populistische und nationalistische Regierungen gingen aus ihr hervor.
Demokratien haben bessere Ressourcen für die Krisenbekämpfung
Damit Gesellschaften die Pandemie friedlich überstehen können, sind jetzt kollektiver Sachverstand, Vertrauen und Solidarität gefragt. Das gilt sowohl innenpolitisch als auch für die Kooperation zwischen Ländern. Eine Kombination aus Sachverstand, Vertrauen und Solidarität ist in Demokratien leichter zu erreichen als in Autokratien.
Kollektive Entscheidungen im Lichte großer Unsicherheit treffen zu müssen, ist ein wesentliches Merkmal gesellschaftlicher Krisen. Dafür ist Vertrauen in politische Institutionen und Politiker*innen zentral. Sachargumente öffentlich zu diskutieren, einer staatlichen Einrichtung Deutungshoheit zu übertragen, ist Teil demokratischer Güterabwägungen und Entscheidungsfindung.
In Autokratien hat nur eine zentrale Instanz die Deutungshoheit über öffentliche Belange. Umso mehr sind Autokraten auf das Vertrauen der Bevölkerung angewiesen. Droht dieses zu schwinden, verstärkt der Staat repressive Maßnahmen. Auch dort, wo populistische Regierungen auf einen „starken Mann“ oder eine „starke Frau“ setzen, kann öffentliches Vertrauen schnell schwinden, wenn diese*r die Krise nicht glaubwürdig managt oder sich nicht auf fachlich kompetente Institutionen verlässt. Das zeigt sich momentan nicht nur in den USA, sondern gerade auch in Entwicklungsländern mit schwachen Institutionen und autokratischer Führung. Vertrauensverlust in Regierungen kann sowohl Forderungen nach mehr Demokratie hervorrufen als auch politische Instabilität befeuern.
Was aber, wenn weder Institutionen, noch politische Eliten gemeinwohlorientiert agieren und nicht durch die Bevölkerung korrigiert werden können? Was, wenn die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist und keine breite Verständigung über Maßnahmen zur Eindämmung der Gesundheitskrise möglich ist? Hinzu kommt: Autokratien höhlen durch das Prinzip gegenseitiger sozialer Kontrolle gesamtgesellschaftlich solidarisches Verhalten aus. Soziale Kontrolle soll Solidarität zwischen systemkritischen Gruppen unterbinden. Gewinnt staatliche und soziale Kontrolle an Überhand, beginnt Misstrauen zu herrschen. Wessen Leben unversehrt bleiben soll, entscheidet dann der Staat nach eigens aufgestellten Kriterien. Kurzfristig ist soziale Kontrolle also probat gegen eine Pandemie, langfristig kostet sie in autoritären Kontexten Menschenleben.
Internationaler Demokratieschutz – längst überfällig, jetzt dringlich
Die Pandemie hat Autokratisierungstrends sichtbarer gemacht. Für internationale Kooperation ist Demokratieschutz und -förderung daher das Gebot der Stunde. Funktional betrachtet ist eine globale Pandemie nicht ohne transparente und vertrauensvolle internationale Kooperation zu bekämpfen. Wissenschaftskooperation treibt medizinische Forschung an. Dafür ist ein transnationaler Austausch vertrauenswürdiger empirischer Daten unerlässlich. Offener Datenzugang ist in Autokratien jedoch selten verlässlich. Zudem muss ein effektiver Einsatz deutscher und europäischer Entwicklungsgelder darauf vertrauen können, dass politische Eliten in Entwicklungsländern sachgerechte Informationen über ihre Bevölkerung bereitstellen.
In der internationalen Entwicklungspolitik den Aufbau von Gesundheitssystemen zu fördern, reicht nicht aus. Ob sie für alle funktionieren, hängt davon ab, ob die politische Ordnung gleichen Zugang für alle gewährleistet. Geostrategisch können Autokratien wie China oder Singapur mit Erfolgen bei der Covid-19- Bekämpfung den Anschein erwecken, dass sie leistungsfähiger sind und damit für ihr Ordnungsmodell in Entwicklungsländern werben. Die Covid-19-Krise zeigt, dass der Schutz der Unversehrtheit und der Würde des Einzelnen ein Primat deutscher und europäischer Politik ist. Dies ist historisch betrachtet nur in Demokratien gelungen. Sich für diesen Wert auch in der globalen Pandemiebekämpfung einzusetzen, ist nicht nur ein Zeichen der Solidarität, sondern auch im Eigeninteresse auswärtiger Politik.
Über die Autorin Dr. Julia Leininger
Dieser Text ist Teil einer Sonderreihe unseres Formats Die aktuelle Kolumne, die die Folgen der Corona-Krise entwicklungspolitisch und sozioökonomisch einordnet. Sie finden die weiteren Texte hier auf unserer Überblicksseite.
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Das Corona-Virus als Chance für die internationale Zusammenarbeit
- Warum Soziale Sicherung in der Corona-Krise entscheidend ist
- Wie wir der Klimamigration nach der Corona-Zeit begegnen müssen
- Parallelen zwischen der Corona-Pandemie und dem Klimawandel
- Was wir in der Corona-Krise von und über Afrika lernen können
- Wie die EU und aufstrebende Mächte ihre Zukunft nachhaltig gestalten können
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- Droht durch Corona eine Verschuldungskrise in den Entwicklungsländern?
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