Ein Satz sticht in der politischen Erklärung zum 75-jährigen Bestehen der Vereinten Nationen besonders hervor: „Wir sind nicht hier, um zu feiern. Wir sind hier, um zu handeln.“ Heute werden die 193 UN-Mitgliedstaaten dies voraussichtlich verabschieden. Angesichts der vielen Übel, die der Welt und der Weltorganisation in jüngster Zeit widerfahren sind, erscheint diese Erklärung vielversprechend, wenn nicht dringlich.
Nimmt man die Covid-19-Pandemie als Testfall für die kollektive Fähigkeit der Welt, wirksam auf globale Probleme zu reagieren, so haben wir bislang versagt. Viel zu oft war erbitterter Konkurrenzkampf zwischen den Nationen die Antwort statt globale Koordination, multilaterale Zusammenarbeit und Solidarität. Die zur Bewältigung einer solchen Krise geschaffenen UN-Institutionen – etwa die Weltgesundheitsorganisation – waren zwar effektiv, wurden aber durch regulatorische, politische und finanzielle Zwänge behindert. Weder der Sicherheitsrat noch die Generalversammlung haben auf die Pandemie mit der gebotenen Dringlichkeit reagiert. Zudem hat sich herausgestellt, dass andere, relativ neue und viel gepriesene Strukturen wie die G20 ebenso unzulänglich agierten und der gleichen toxischen (Geo-)Politik unterliegen. Dies ist leider keine große Überraschung angesichts der im Ganzen unzureichenden Reaktionen auf gleichermaßen drängende globale Krisen – Verlust der Artenvielfalt, Klimawandel oder wachsende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten innerhalb und zwischen Nationen. Kollektives Handeln auf globaler Ebene ist schwierig, umso mehr, wenn Verhalten geändert und Ressourcen umverteilt werden müssen. Nationalismus, Populismus, geopolitische Rivalitäten und eine gewisse multilaterale Ermüdung haben die Aufgabe nicht leichter gemacht.
Auch wenn all dies ernüchternd ist, sollten wir die vielen bedeutsamen Leistungen der UN in den vergangenen 75 Jahren nicht übersehen, etwa in puncto Friedenssicherung, Entwicklung, Menschenrechte und humanitärer Hilfe. Heute werden auch die Ergebnisse des über ein Jahr geführten „globalen Dialogs“ von UN75 mit über einer halben Million Menschen veröffentlicht. Sie werden zweifellos die weltweit verbreitete Überzeugung bekräftigen, dass verstärkte globale Zusammenarbeit absolut unerlässlich ist. Kann der 75. Jahrestag also Gelegenheit bieten, den dringend benötigten Weg zur Wiederbelebung des Multilateralismus und der Vereinten Nationen selbst zu beschreiten? Beim Multilateralismus geht es nicht nur darum, globalen Risiken zu begegnen, sondern auch darum, globale Handlungsmöglichkeiten zu erkennen. Wir nennen hier nur drei.
Erstens bedarf es dringend überzeugender Narrative, die Entscheidungsträger*innen und der breiten Öffentlichkeit aufzeigen, dass es sich lohnt, den Multilateralismus zu bewahren und weiterzuentwickeln. Viel zu oft wird Multilateralismus als zu wenig greifbar und weit entfernt von „Wir, die Völker“ wahrgenommen, die Formulierung, mit der die Charta der Vereinten Nationen beginnt. Möglichst viele nationale Regierungen sollten den 75. Jahrestag zum Anlass nehmen, ihre multilaterale Politik zu überprüfen. Das Auswärtige Amt tut dies mit seinem „Weißbuch Multilateralismus“, in das die Sichtweisen vieler Akteure einfließen.
Zweitens müssen in unmittelbarer Zukunft belastbare multilaterale Antworten Vorrang haben. In Bezug auf Covid-19 bedeutet dies, dass die Entwicklung und der Zugang zu Impfstoffen als ein globales öffentliches Gut behandelt werden müssen, das gleichberechtigt all jene erreicht, die am meisten gefährdet sind. Es muss mehr Solidarität bei der Bewältigung der sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie geben. Hier sind Kanada, Jamaika und die UN in die Bresche gesprungen. Gemeinsam weisen sie auf den Finanzierungsbedarf hin, um zurück auf den Weg zu den Zielen der nachhaltigen Entwicklung (SDGs) zu finden – und die Länder müssen darauf reagieren. Wir müssen auch von der Rhetorik zu der Realität des building back better übergehen. Ehrgeizigere Zusagen für Klimaschutzmaßnahmen sind notwendig. Längst überfällige Verbesserungen bei den nationalen Klimaaktionsplänen (NDCs) müssen bei der Gestaltung von Maßnahmen zur wirtschaftlichen Erholung eine entscheidende Rolle spielen, damit bis 2050 Klimaneutralität erreicht wird. Die Pandemie hat weltweit bedeutende Verhaltensänderungen bewirkt, die sich weiter beschleunigen müssen, wenn wir eine noch existenziellere Klimakrise abwenden wollen.
Drittens müssen trotz des komplexen politischen Umfelds weitere UN-Reformen in Angriff genommen werden. Die Erklärung zum 75. Jahrestag beauftragt den UN-Generalsekretär, der Generalversammlung innerhalb eines Jahres Empfehlungen zu globalen Herausforderungen und Reformen zu unterbreiten. Es ist wichtig, dass er Raum, Ressourcen und intellektuelle Schlagkraft erhält, um das erforderliche kreative Denken und die entsprechende Inspiration zu wecken – und dass er bei seinen Bemühungen politisch unterstützt wird. Im Geiste eines „inklusiven Multilateralismus“ sollte der anstehende politische Prozess auf konkreten Vorschlägen fußen, die im Vorfeld des 75. Jahrestags von zivilgesellschaftlichen Akteuren, Think Tanks, Parlamenten und anderen entwickelt wurden – wobei die Tür für weit mehr offen bleiben sollte.
Die Mitgliedstaaten selbst erklären heute: „Wir sind hier, um die Zukunft zu sichern, die wir wollen, und die Vereinten Nationen, die wir brauchen.“ Es ist höchste Zeit, damit weiter voranzukommen.
Über die Autoren:
John Hendra ist ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär der Entwicklungsgruppe der Vereinten Nationen (UNDG) und von UN Women und ehemaliger UN-Koordinator in Vietnam, Tansania und Lettland. Er berät weiterhin in Fragen der nachhaltigen Entwicklung und der Reform des Entwicklungssystems der Vereinten Nationen und ist derzeit assoziierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE).
Dr. Silke Weinlich ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprogramm „Inter- und Transnationale Zusammenarbeit“ am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und leitet ein Forschungs- und Beratungsprojekt zur Reform des UN-Entwicklungssystem.